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Für wen gilt der Tarifvertrag? Vortrag vor der Juristischen Fakultät der Universität Malatya am 23. Juni 2011

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Für wen gilt der Tarifvertrag?

Vortrag vor der Juristischen Fakultät der Universität Malatya am 23. Juni 2011

Professor Dr. Martin Franzen, Universität München I. Einleitung

Das deutsche Arbeitsrecht unterscheidet grundlegend zwischen zwei Geltungsarten des Tarifvertrags: die normative tarifvertragsrechtliche Geltung des Tarifvertrags und die vertraglich vereinbarte arbeitsvertragliche Geltung des Tarifvertrags.

Die normative tarifvertragsrechtliche Geltung ergibt sich hinsichtlich Voraussetzungen und Rechtsfolgend im wesentlichen aus dem Tarifvertragsgesetz vom 9. April 1949 (TVG). Manche Aspekte werden noch modifiziert durch das Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG), das in Umsetzung der Arbeitnehmerentsenderichtlinie 96/71/EG ergangen ist und mittlerweile eine darüber hinausreichende Bedeutung erlangt hat. Die tarifvertragsrechtliche Geltung des Tarifvertrags ordnet eine gesetzliche Wirkung des Tarifvertrags an. Die entsprechenden Rechtsnormen des Tarifvertrags wirken dann unmittelbar und zwingend auf das Arbeitsverhältnis ein, wie dies § 4 Abs. 1 TVG aussagt.

Demgegenüber beruht die vertragliche Geltung des Tarifvertrags auf der Vereinbarung im Arbeitsvertrag in Gestalt einer sogenannten Bezugnahmeklausel. Die Geltungsbedingungen und Beendigungsmöglichkeiten folgen allein aus dem Vertragsrecht. Ich möchte im folgenden zunächst die tarifvertragsrechtliche Geltung des Tarifvertrags darstellen (unten II) und daran anschließend die vertragsrechtliche Geltung (III).

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II. Geltung des Tarifvertrags kraft Tarifvertragsgesetz

Die tarifvertragsrechtliche Geltung des Tarifvertrags hat im wesentlichen zwei Voraussetzungen: Der Arbeitsvertrag zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber muß in den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallen (dazu 1) und es muß Tarifbindung bestehen (dazu 2).

1. Geltungsbereich des Tarifvertrags a) Allgemeines

Die normative und zwingende Wirkung des Tarifvertrags erfordert nach

§ 4 Abs. 1 S. 1 TVG neben der Tarifbindung der Arbeitsvertragsparteien, dass das Arbeitsverhältnis unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fällt. Die Tarifvertragsparteien legen mit dem Geltungsbereich fest, für welchen Normadressaten der Tarifvertrag gelten soll. Dabei sind die Tarifvertragsparteien grundsätzlich autonom, für welche Arbeitnehmer und Arbeitgebergruppen sie den Geltungsbereich festlegen.

Der Geltungsbereich setzt die übereinstimmende Tarifzuständigkeit beider Tarifvertragsparteien voraus. Diese legen die Tarifvertragsparteien in ihrer Satzung fest. Die gemeinsame Tarifzuständigkeit markiert somit die Maximalgrenze des Geltungsbereiches eines Tarifvertrags. Decken sich die Zuständigkeiten der Tarifvertragsparteien nicht vollständig, kann sich eine gemeinsame Tarifzuständigkeit nur aus dem übrig gebliebenen Überschneidungsbereich ergeben. Wenn der Tarifvertrag auf den Zuständigkeitsbereich des Verbands mit der weiteren Tarifzuständigkeit abstellt, ist er insoweit unwirksam1.

Darüber hinaus können die Tarifvertragsparteien vereinbaren, dass ihre Regelungen gegenüber anderen Tarifverträgen zurücktreten. So gelten beispielsweise Tarifverträge in der Bauwirtschaft nur dann, wenn keine fachnäheren Tarifverträge eingreifen. Dagegen können Tarifverträge nicht für sich den Vorrang beanspruchen, weil insoweit in die Regelungskompetenz anderer zuständiger Tarifvertragsparteien eingegriffen würde. Wird in einem Tarifvertrag der Geltungsbereich nicht

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ausdrücklich festgelegt, muss im Wege der Auslegung aus dem Regelungszusammenhang ermittelt werden, welchen konkreten Geltungsbereich der Tarifvertrag haben soll. Im Zweifel ist anzunehmen, dass ein Entgelttarifvertrag denselben Geltungsbereich hat wie der Manteltarifvertrag2.

b) Räumlicher Geltungsbereich

Mit dem räumlichen Geltungsbereich werden die geographischen Grenzen des Tarifvertrags festgelegt. Die Tarifvertragsparteien können bestimmen, ob der Tarifvertrag für das gesamte Staatsgebiet Deutschlands, ein Bundesland, Bezirk usw. gilt.

Anknüpfungspunkt für den räumlichen Geltungsbereich kann der Sitz des Unternehmens, des Betriebs oder der Erfüllungsort bzw. Schwerpunkt des Arbeitsverhältnisses sein. Bei betriebsbezogenen Arbeitsverhältnissen ist dies im Zweifel der Ort des Betriebes oder Betriebsteiles, in dem der Arbeitnehmer arbeitet3. Hat das Arbeitsverhältnis seinen Schwerpunkt außerhalb des räumlichen Geltungsbereichs des für den Betriebssitz maßgeblichen Tarifvertrags, wird das Arbeitsverhältnis von dem räumlichen Geltungsbereich des dort geltenden Tarifvertrags erfasst4. Gilt ein Tarifvertrag für einen bestimmten Bezirk und liegen Betriebe eines Unternehmens teils innerhalb und teils außerhalb des Bezirks, erfasst der Tarifvertrag nur die im Bezirk liegenden Betriebe5. Bei Außendienstmitarbeitern ist regelmäßig der Ort des Betriebes maßgebend, von dem aus die Tätigkeit verrichtet wird.

c) Fachlicher oder betrieblicher Geltungsbereich

Mit dem fachlichen oder betrieblichen Geltungsbereich bestimmen die Tarifvertragsparteien, für welche Betriebe der Tarifvertrag gelten soll.

Regelmäßig wird nach dem Industrieverbandsprinzip auf die Ausrichtung des Betriebs und nicht auf die Tätigkeit der Arbeitnehmer abgestellt. Die Tarifvertragsparteien können dabei an den Betriebsbegriff des BetrVG anknüpfen, aber auch einen eigenen Begriff des Betriebs definieren, zum Beispiel im Baugewerbe; hiernach gilt auch eine selbstständige Betriebsabteilung im Sinne von § 175 II SGB III als

2 BAG 13. 6. 1957 AP TVG § 4 Geltungsbereich Nr. 6; 20. 4. 1988 AP TVG § 1 Tarifverträge: Bau Nr. 93.

3 BAG 3. 12. 1985 AP TVG § 1 Tarifverträge: Großhandel Nr. 5.

4 BAG 25. 5. 2005 AP TVG § 1 Tarifverträge: Gebäudereinigung Nr. 17.

5 BAG 13. 6. 1957 AP TVG § 4 Geltungsbereich Nr. 6.

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Betrieb6. Der Tarifvertrag gilt für alle Arbeitnehmer des Betriebs, unabhängig davon, welche Tätigkeiten die Arbeitnehmer ausführen. Stellt der Tarifvertrag auf die Branchenzugehörigkeit des Betriebs ab, so können in einem Unternehmen mehrere Tarifverträge gelten. Auf den Hauptzweck des Unternehmens kommt es nicht an7.

Inzwischen nimmt die Anzahl der Gewerkschaften zu, welche sich nach dem Berufsverbandsprinzip organisieren und somit nur für Arbeitnehmer bestimmter Berufsgruppen offen stehen, zB Unabhängige Flugbegleiter Organisation (UFO), Vereinigung Cockpit (VC), Gewerkschaft der Lokomotivführer (GDL). Von diesen Arbeitnehmerkoalitionen abgeschlossene Tarifverträge knüpfen folgerichtig regelmäßig an die berufliche Tätigkeit der Arbeitnehmer und nicht an die Ausrichtung des Betriebs an.

In Mischbetrieben werden unterschiedliche arbeitstechnische Zwecksetzungen verfolgt. Für die Zuordnung kommt es auf den Hauptzweck des Betriebs an. Die Rechtsprechung stellt darauf ab, mit welchen Arbeiten die Arbeitnehmer überwiegend betraut sind, nicht aber auf handels- oder gewerberechtliche Kriterien oder Umsatzkennzahlen8. Selbstständige Betriebsabteilungen und Nebenbetriebe unterfallen regelmäßig dem Geltungsbereich des Hauptbetriebs, sofern die Tarifvertragsparteien nichts anderes bestimmt haben9. Beschreiben die Tarifvertragsparteien die Art der Tätigkeit des Arbeitgebers (Gewerbebetrieb, Industrie, Handwerk), so werden nur solche Betriebe erfasst, die diesem Tätigkeitsbereich zuzurechnen sind. Ein Industrietarifvertrag gilt somit nicht für Handwerksbetriebe. Dabei muss auf den Schwerpunkt der betrieblichen Tätigkeit abgestellt werden.

Im Wege der Auslegung des Tarifvertrags ist zu ermitteln, ab welchem Zeitpunkt und bis zu welchem Zeitpunkt der Betrieb dem

6 BAG 25. 1. 2005 AP AEntG § 1 Nr. 22; BAG 26. 9. 2007 NZA 2007, 1442.

7 BAG 31. 3. 1955 AP TVG § 4 Geltungsbereich Nr. 1; 13. 6. 1957 AP TVG

§ 4Geltungsbereich Nr. 6; ebenso für die Tarifzuständigkeit des einzelnen Unternehmens die neuere BAG-Rechtsprechung, vgl. BAG 25. 9. 1996 AP TVG § 2 Tarifzuständigkeit Nr. 10.

8 Ständige Rechtsprechung BAG 15. 11. 2006 AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 34 =

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Geltungsbereich des Tarifvertrags unterliegt. Im Allgemeinen wird sich dies von der Aufnahme der betrieblichen Tätigkeit bis zur Beendung von Abwicklungsarbeiten erstrecken. Daher unterfällt auch noch der Arbeitgeber nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens dem tariflichen Geltungsbereich10. Ändert sich der Unternehmenszweck und scheidet ein Betrieb aus dem fachlichen Geltungsbereich aus, so endet die Bindung an den Tarifvertrag; dieser entfaltet grundsätzlich Nachwirkung nach

§ 4 Abs. 5 TVG11.

d) Persönlícher Geltungsbereich

Mit dem persönlichen Geltungsbereich wird festgelegt, für welche Arbeitnehmergruppen der Tarifvertrag gilt, also z. B. Angestellte, Arbeiter, Auszubildende oder weitere Teile davon. Häufig beschränkt der Tarifvertrag seinen persönlichen Geltungsbereich auf die Mitglieder der tarifschließenden Gewerkschaft. Dies stellt regelmäßig lediglich deklaratorisch klar, was §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG ohnehin sagen, dass nämlich ein tariflicher Anspruch nur bei regelmäßig beiderseitiger Tarifbindung entsteht12 (dazu sogleich im Zusammenhang mit der Tarifbindung).

Ist die Regelung gleichwohl konstitutiv, handelt es sich regelmäßig um eine zulässige sogenannte einfache mitgliedschaftsanknüpfende Differenzierungsklausel13. Diese bewirkt, dass nicht organisierten Arbeitnehmern im Falle der Allgemeinverbindlicherklärung gemäß

§ 5 Abs. 4 TVG oder Nachbindung gemäß § 3 Abs. 3 TVG kein tarifvertraglicher Anspruch zusteht, weil insoweit der persönliche Geltungsbereich des Tarifvertrags nicht eröffnet ist. Eine derartige Tarifklausel hindert die Arbeitsvertragsparteien aber nicht, einen arbeitsvertraglichen Anspruch durch Bezugnahme auf den Tarifvertrag zu begründen14.

10 BAG 28. 1. 1987 AP TVG § 4 Geltungsbereich Nr. 14.

11 BAG 10. 12. 1997 AP TVG § 3 Nr. 20; 10. 12. 1997 AP TVG § 3 Nr. 21.

12 BAG 23. 3. 2005 AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 29.

13 BAG 18. 3. 2009 NZA 2009, 1028.

14 Einschränkend aber BAG 18. 3. 2009 NZA 2009, 1028: allgemeine Bezugnahmeklausel genügt hierfür nicht.

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e) Zeitlicher Geltungsbereich

Tarifverträge enthalten häufig Regelungen über den zeitlichen Geltungsbereich, etwa Inkrafttreten sowie Beendigungstatbestände wie Befristung, Kündigung. Fehlt es daran, treten Tarifverträge grundsätzlich mit ihrem Abschluss in Kraft. Vielfach sehen Tarifverträge vor, dass manche Ansprüche der Arbeitnehmer zeitversetzt entstehen sollen (bspw.

stufenweise Entgelterhöhungen). In diesen Fällen tritt der Tarifvertrag sofort in Kraft, während die Rechtsfolgen (partiell) zu einem späteren Zeitpunkt eintreten sollen.

An das Ende eines Tarifvertrag schließt sich regelmäßig die Nachwirkung nach § 4 Abs. 5 TVG an, es sei denn, die Nachwirkung wurde im Tarifvertrag ausgeschlossen. Der Tarifvertrag wirkt dann mit dem Inhalt, den er zum Zeitpunkt der Beendigung hatte, weiter und verliert seine zwingende Wirkung; sein Inhalt kann also durch Arbeitsvertrags oder andere Tarifverträge abgeändert werden. Das Arbeitsverhältnis muß während der Laufzeit des Tarifvertrags begründet worden sein. Dann entstehen tarifvertragliche Ansprüche. Für erst im Stadium der Nachwirkung begründete Arbeitsverhältnisse gilt der Tarifvertrag nach der Rechtsprechung des BAG nicht mehr.

2. Tarifbindung

Hinsichtlich des Erfordernisses der Tarifbindung muß man zwischen zwei wichtigen Arten von Tarifnormen differenzieren: Inhaltsnormen, Abschlußnormen und Beendigungsnormen (sogenannten Individualnormen) einerseits nach §§ 1 Abs. 1, 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 S. 1 TVG und Betriebsnormen und Normen über betriebsverfassungsrechtliche Fragen andererseits (§ 3 Abs. 2, 4 Abs. 1 S. 2 TVG).

a) Erfordernis beidseitiger Tarifbindung der Arbeitsvertragsparteien für Individualnormen (§ 3 Abs. 1 TVG)

Die beiderseitige Tarifbindung der Arbeitsvertragsparteien ist erforderlich für die tarifvertragsrechtliche Geltung von solchen Individualnormen, also Abschlußnormen, Inhaltsnormen, Beendigungsnormen. Dies ergibt sich aus § 4 Abs. 1 S. 1 TVG. Arbeitnehmer und Arbeitgeber müssen also den

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Mitglied der Gewerkschaft sein und der Arbeitgeber Mitglied des Arbeitgeberverband oder selbst Partei des Tarifvertrags bei einem sogenannten Haus- oder Firmentarifvertrag. Die Tarifgeltung gewinnt also bei diesem Verständnis ihre Legitimation aus dem rechtsgeschäftlichen Verbandsbeitritt der beiden Parteien des Arbeitsvertrags.

Gegenstand einer Inhaltsnorm kann alles sein, was Inhalt eines Arbeitsverhältnisses ist. Geregelt werden können die Haupt-, Nebenleistungs- und Schutzpflichten der Arbeitsvertragsparteien, etwa Dauer und Lage der Arbeitszeit, Mehrarbeit und Kurzarbeit, Erholungsurlaub, Höhe des Entgeltes einschließl. der Eingruppierung in das Entgeltsystem, Entgeltzuschläge für Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeit, Sonderzahlungen, wie Urlaubsgeld und Sonderzuwendungen (Gratifikationen). Abschlussnormen regeln das Zustandekommen neuer, die Wiederaufnahme alter oder die Fortsetzung unterbrochener Arbeitsverträge. Hierzu zählen zunächst Bestimmungen über Form und sonstige Modalitäten des Abschlusses des Arbeitsvertrags.

Beendigungsnormen regeln die Berechtigung von Arbeitgeber und Arbeitnehmer zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses sowie die entsprechenden Modalitäten, das „Ob“ und „Wie“ der Beendigung des Arbeitsverhältnisses, etwa Vorschriften zur Form der Kündigung oder des Aufhebungsvertrags, Kündigungsfristen und –termine oder Kündigungsverbote für Arbeitnehmer mit einer bestimmten Beschäftigungsdauer oder für alle AN für einen bestimmten Zeitraum Für diese für das Arbeitsverhältnis ganz zentralen Regelungen im Tarifvertrag ist es also Voraussetzung, daß Arbeitnehmer und Arbeitgeber gemeinsam an den Tarifvertrag gebunden sind. Anderenfalls entfaltet der Tarifvertrag keine normative Wirkung; er kann allenfalls vertragsrechtlich gelten aufgrund einer sogenannten Bezugnahmeklausel (siehe dazu unten III).

b) Alleinige Tarifbindung des Arbeitgebers für Normen über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen (§ 3 Abs. 2 TVG)

Für Rechtsnormen des Tarifvertrags über betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Fragen reicht die Tarifbindung des Arbeitgebers aus (§ 3 Abs. 2 TVG). Es genügt also, wenn dieser Partei des Tarifvertrags ist oder dem tarifvertragsschließenden Arbeitgeberverband angehört.

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Betriebsnormen gehen über den Inhalt des einzelnen individuellen Arbeitsverhältnisses hinaus und regeln das betriebliche Rechtsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Belegschaft. Die Qualifizierung als Betriebsnorm ist deshalb mit Schwierigkeiten verbunden, weil viele Regelungen solcher Art grundsätzlich auch als Inhaltsnorm eingeordnet werden könnten und im Fall der Betriebsnorm nach § 3 Abs. 2 TVG Außenseiter vom Tarifvertrag erfasst werden, sofern nur der Arbeitgeber tarifgebunden ist. Diese Rechtsetzungsmacht für Außenseiter wurde im Schrifttum stark angegriffen15. Das BAG versucht den Bereich der Betriebsnormen daher einzugrenzen: Es muss sich um Bestimmungen handeln, „die in der sozialen Wirklichkeit aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nur einheitlich gelten können“16.

Aus rechtlichen Gründen müssen im Betrieb beispielsweise Auswahlrichtlinien nach § 1 Abs. 4 KSchG einheitlich gelten, da anderenfalls die nach § 1 Abs. 3 KSchG erforderliche soziale Auswahl gestört ist. Tatsächliche Gründe, die die betriebseinheitliche Geltung von Tarifnormen fordern, können im technisch-organisatorischen oder wirtschaftlichen Bereich liegen. Technisch-organisatorische Einrichtungen müssen betriebseinheitlich gelten; hierzu werden beispielsweise gezählt: Torkontrollen, technische Überwachungseinrichtungen, Kleiderordnungen, Rauchverbote, Lage der Schichtzeiten, qualitative Besetzungsregelungen, Regelungen über die Schließung des Unternehmens an bestimmten Tagen, Anforderungen an Körpergröße und Höchstalter für die Einstellung von Arbeitnehmern sowie Zeitzuschläge, die sich auf die Arbeitsintensität und Personalstärke auswirken.

Betriebsverfassungsrechtliche Normen beziehen sich auf Einrichtung und Organisation der Betriebsvertretung und deren Befugnisse und Rechte. Aufgrund der gesetzlichen Regelung der Betriebsverfassung im Betriebsverfassungsgesetz hat die Befugnis der Tarifvertragsparteien zur Setzung betriebsverfassungsrechtlichen Normen nur noch dort praktische Bedeutung, wo das BetrVG dies zulässt. Bei solchen Tarifnormen liegt es

15 Siehe aus jüngerer Zeit nur Giesen Tarifvertragliche Rechtssetzung für den Betrieb,

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auf der Hand, daß diese nur einheitlich im Betrieb gelten und nicht von der zusätzlichen Tarifbindung des Arbeitnehmers abhängen können.

c) Ende der Tarifbindung (§ 3 Abs. 3 TVG)

Die einmal eingetretene Tarifbindung endet nach § 3 Abs. 3 TVG erst, wenn der Tarifvertrag endet. Diese Vorschrift sichert den Grundsatz

„pacta sunt servanda“ im Hinblick auf Tarifverträge. Die Tarifvertragsunterworfenen sollen sich nicht einem unliebsamen Tarifvertrag durch schnellen Austritt aus dem tarifschließenden Verband entziehen können. Daher folgt das Tarifvertragsrecht bei der Beendigung der Tarifbindung nicht dem ansonsten für die Mitgliedschaft maßgeblichen Verbandsrecht. Unter „Ende des Tarifvertrags“ versteht die herrschende Auffassung auch inhaltliche Änderungen.

3. Erweiterungen der Tarifbindung durch Erstreckung des Tarifvertrag auf Außenseiter

Für die zentral wichtigen Regelungen zum Inhalt des Arbeitsverhältnisses – insbesondere für Entgeltregelungen - bedarf es also nach deutschem Tarifvertragsrecht für die normative Geltung des Tarifvertrags der Mitgliedschaft von Arbeitnehmer und Arbeitgeber in den Organisationen, die den Tarifvertrag geschlossen haben. Daran fehlt es freilich häufig. Die Bindekräfte von Großorganisationen wie Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sind in den letzten 20 Jahren zurückgegangen. Somit könnten tariffreie Unternehmen ohnehin und tarifgebundene Arbeitgeber zumindest mit ihren nicht der Gewerkschaft angehörenden Arbeitnehmern vom Tarifvertrag abweichende auch schlechtere Arbeitsbedingungen vereinbaren.

a) Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG

Um dem entgegenzuwirken hat bereits der Gesetzgeber des TVG das Institut der Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG geschaffen.

Durch dieses Instrument kann der Bundesarbeitsminister die Geltung eines Tarifvertrags in seinem Geltungsbereich auf die nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer erstrecken – die fehlende Tarifbindung von Arbeitnehmern und/oder Arbeitgebern wird also ersetzt

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durch einen staatlichen Geltungsbefehl. Die Allgemeinverbindlicherklärung ähnelt einer Rechtsverordnung, wird aber von der herrschenden Auffassung als Rechtsakt sui generis behandelt, um den Bindungen des Art. 80 GG zu entkommen, denen dieser Rechtsakt bei Qualifizierung als Rechtsverordnung ausgesetzt wäre. Die Allgemeinverbindlicherklärung ist ein Instrument, mit dem der Staat für angemessene Arbeitsbedingungen für die tariffreien Arbeitsverhältnisse sorgen soll.

In materiell-rechtlicher Hinsicht ist nach § 5 Abs. 1 TVG Voraussetzung, daß die tarifgebundenen Arbeitgeber mindestens 50% der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer beschäftigen und daß die Allgemeinverbindlicherklärung im öffentlichen Interesse geboten ist. Das 50%-Quorum soll eine gewisse Repräsentativität des Tarifvertrags sicherstellen. Auf die Tarifbindung der Arbeitnehmer kommt es nicht an. Die Regelung geht davon aus, daß jedenfalls die tarifgebundenen Arbeitgeber den Tarifvertrag auf alle ihre Arbeitnehmer anwenden. Daher ist jedenfalls faktisch ein gewisser Verbreitungsgrad des Tarifvertrags gesichert. Das weitere Erfordernis des öffentlichen Interesses eröffnet einen weitgehenden Beurteilungsspielraum der zuständigen Behörde, entweder des Bundesarbeitsministers oder, wenn der Tarifvertrag sich räumlich auf ein Bundesland beschränkt, des zuständigen Landesministers.

In formeller Hinsicht muß die Allgemeinverbindlicherklärung von einer der beiden Tarifvertragsparteien gestellt worden sein und der Tarifausschuß der Allgemeinverbindlicherklärung zustimmen. Der Tarifausschuß wird beim Bundesarbeitsminister gebildet und setzt sich aus jeweils drei Vertreter der Spitzenorganisationen von Arbeitgebern und Gewerkschaften zusammen. Im Außenverhältnis ist das Ministerium allein für den Erlaß verantwortlich. Es kann sich also stets gegen den Erlaß einer Allgemeinverbindlicherklärung aussprechen, auch wenn der Tarifausschuß zugestimmt hat.

Der Verbreitungsgrad der Allgemeinverbindlicherklärung ist gering: Von ungefähr 73000 Tarifverträgen in Deutschland (davon allerdings ca.

36000 Firmentarifverträge, die naturgemäß - mangels öffentlichem Interesse und Antrags einer Tarifvertragspartei - nicht für

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für allgemeinverbindlich erklärt. Dies entspricht einer Quote von ca.

0,65%. Die Quote lag in Deutschland auch in früheren Zeiten nicht nennenswert höher.

b) Rechtsverordnung nach § 7 AEntG

Eine ähnliche Möglichkeit, Tarifverträge auf Außenseiter zu erstrecken, bietet § 7 Arbeitnehmerentsendegesetz. Dieses Gesetz wurde in seiner ursprünglichen Fassung in den 1990er Jahren erlassen. Es diente der

Umsetzung der nahezu zeitgleich erlassenen

Arbeitnehmerentsenderichtlinie der EU (Richtlinie 96/71/EG). Diese Richtlinie sollte einen angemessenen Ausgleich schaffen zwischen Wahrnehmung der Dienstleistungsfreiheit ausländischer Unternehmen einerseits und Wahrung der Interessen von Zielstaaten der Dienstleistung insbesondere von Hochlohnländer wie Deutschland und Frankreich. Der Zielstaat einer Dienstleistung kann nach der Richtlinie 96/71/EG bestimmte eigene Arbeitsbedingungen auf aus einem anderen Mitgliedstaat im Rahmen einer Dienstleistungserbringung entsandte Arbeitnehmer anwenden, beispielsweise Mindestentgelte, Mindesturlaub, Höchstarbeitszeiten, Sicherheitsvorschriften etc.

In Deutschland hat das Rechtsinstitut der Allgemeinverbindlicherklärung für die Erstreckung eines deutschen Tarifvertrags auf Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten, welche Arbeitnehmer im Rahmen eines Dienstleistungsauftrags nach Deutschland entsenden, nicht ausgereicht.

Zum einen waren Arbeitnehmer ausländischer Arbeitgeber vom Geltungsbereich des zu erstreckenden Tarifvertrags nicht erfaßt. Zum anderen hatte in manchen Fällen insbesondere im Bereich der Bauwirtschaft der Tarifausschuß blockiert. Daher schuf man eine Rechtsverordnungsermächtigung, die nun in § 7 AEntG enthalten ist.

Diese setzt nun voraus, daß ein gemeinsamer Antrag der beiden Tarifvertragsparteien vorliegt. Außerdem muß die Branche im AEntG (§ 4 AEntG) bereits genannt sein. Im AEntG genannte Branchen sind derzeit das Baugewerbe, Gebäudereinigung, Briefdienstleistungen, Sicherheitsdienstleistungen, Bergbauspezialarbeiten auf Steinkohlebergwerke, Wäschereidienstleistungen im Objektkundengeschäft, Abfallwirtschaft einschließlich Straßenreinigung und Winterdienst sowie Aus- und Weiterbildungsdienstleistungen für

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Arbeitslose. Für die Pflegebranche gelten nach §§ 10 ff. AEntG Sondervorschriften. In Tarifverträgen in diesen Branchen können Arbeitsbedingungen nach § 5 AEntG geregelt werden:

Mindestentgeltsätze; Dauer des Erholungsurlaubs sowie Urlaubsentgelt;

Einziehung von Beiträgen für gemeinsame Einrichtungen im Zusammenhang mit der Verwirklichung von Urlaubsansprüchen; weitere Arbeitsbedingungen im Sinne des § 2 Nr. 3 – 7 AEntG wie Höchstarbeitszeiten, Sicherheitsvorschriften am Arbeitsplatz etc.

Diese Tarifverträge können nun durch eine Rechtsverordnung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales in ihrer Geltung auf Außenseiter erstreckt werden (§ 7 AEntG). Dies gilt nach § 8 Abs. 1 AEntG für Arbeitgeber mit Sitz im Inland und im Ausland, wenn diese Arbeitnehmer im Geltungsbereich des Tarifvertrags beschäftigen. Ein solcher Tarifvertrag ist nach § 8 Abs. 2 AEntG auch dann anzuwenden, wenn der Arbeitgeber an einen anderen Tarifvertrag gebunden ist, sei es kraft eigener Tarifbindung nach § 3 TVG oder Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG.

Bei erstmaliger Antragstellung im Rahmen von § 7 AEntG muß der Tarifausschuß zustimmen. Stimmt er nicht mehrheitlich zu, kann die Bundesregierung und nur diese die Rechtsverordnung gleichwohl erlassen. Im übrigen ist der Bundesarbeitsminister zuständig. In materiell- rechtlicher Hinsicht ist erforderlich, daß die Geltungserstreckung im öffentlichen Interesse geboten ist. Ein Quorum nach dem Vorbild des § 5 Abs. 1 Nr. 1 TVG (50%) ist rechtlich nicht erforderlich, wohl aber politisch.

§§ 7, 8 AEntG fungieren derzeit in Deutschland dazu, Mindestarbeitsentgelte durch Tarifvertrag festzusetzen. Diese gelten dann für alle Arbeitnehmer der betroffenen Branche, aber selbstverständlich nur soweit die Branche in § 4 AEntG aufgeführt ist. Dieses System branchenbezogener Mindestlöhne ist relativ kompliziert und wird deshalb auch scharf kritisiert.

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III. Geltung des Tarifvertrags kraft Arbeitsvertrags (sogenannte Bezugnahmeklausel)

Nun komme ich zur zweiten Form der Geltung des Tarifvertrags, der arbeitsvertraglichen Geltung. Dies setzt voraus, daß die Arbeitsvertragsparteien im Arbeitsvertrag die Geltung eines bestimmten Tarifvertrags vereinbart haben (sogenannte Bezugnahmeklausel): „Es gelten die Bestimmungen des Tarifvertrags der Metallindustrie in ihrer jeweiligen Fassung.“

1. Funktion von Bezugnahmevereinbarungen

Die große Mehrzahl der Arbeitsverträge enthält vollumfängliche oder teilweise Verweisungen auf einen oder mehrere Tarifverträge (sogenannte Bezugnahmeklauseln). Die Gründe hierfür sind unterschiedlich: Für den tarifgebundenen Arbeitgeber liegt der Vorteil darin, dass er hierdurch einheitliche Arbeitsbedingungen für alle Arbeitnehmer ungeachtet ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit schaffen und damit Anreize zum Gewerkschaftsbeitritt vermeiden kann. Für die nichtorganisierten Arbeitgeber besteht der Vorteil einer Bezugnahme auf Tarifvertrag darin, dass sie kein eigenes Regelwerk erstellen müssen und auf diese Weise Transaktionskosten sparen. Überdies kann die Gewährleistung tariflicher Arbeitsbedingungen im Wettbewerb um qualifizierte Arbeitskräfte notwendig sein.

2. Instrumente

Als Instrument für die Bezugnahme auf einen Tarifvertrag kommt vor allem der Arbeitsvertrag in Betracht. Die Bezugnahme kann ausdrücklich oder konkludent erfolgen oder sich aus betrieblicher Übung ergeben. Wendet ein tarifgebundener Arbeitgeber die für ihn einschlägigen Tarifverträge wiederholt auch auf Außenseiter an, kann dies als betriebliche Übung dahingehend verstanden werden, dass der Arbeitgeber organisierte und nichtorganisierte Arbeitnehmer gleichbehandeln will. Die betriebliche Übung begründet dann eine schuldrechtliche Bindung, welche grundsätzlich soweit reicht, wie die Bindung des Arbeitgebers gegenüber tarifgebundenen Arbeitnehmer.

Demgegenüber wirkt eine entsprechende betriebliche Übung bei einem nicht tarifgebundenen Arbeitgeber nur statisch, weil dieser sich nicht für

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die Zukunft der Regelungsmacht der Verbände unterwerfen will17 Vorformulierte Bezugnahmeklauseln sind Allgemeine Geschäftsbedingungen im Sinne von § 305 Abs. 1 BGB; daher sind hierauf §§ 305 ff. BGB anwendbar, nicht aber wegen § 310 Abs. 4 BGB auf die in Bezug genommenen Tarifbestimmungen selbst.

3. Form

Die Bezugnahmevereinbarung ist an keine Form gebunden. Allerdings verlangt § 2 Abs. 1 NachwG die Aushändigung eines schriftlichen Dokuments über die wesentlichen Arbeitsbedingungen. Dieses kann nach

§ 2 Abs. 3 NachwG durch einen Hinweis auf die einschlägigen Tarifverträge ersetzt werden. Daher muss der Arbeitgeber ohnehin schriftlich über die einschlägigen Tarifverträge informieren, wenn diese kraft Tarifbindung oder Vereinbarung für das Arbeitsverhältnis gelten sollen. Daher dürfte eine schriftliche Abfassung der Bezugnahmevereinbarung tunlich sein. Damit entfällt bei einem schriftlich ausgefertigten Arbeitsvertrag nach § 2 Abs. 4 NachwG auch die Verpflichtung zur Aushändigung eines schriftlichen Nachweises.

4. Wirkung der Bezugnahmeabrede

Durch die Verweisung in einem Arbeitsvertrag auf die tariflichen Regelungen entsteht keine Tarifbindung; vielmehr wird die tarifliche Regelung zum Inhalt des Arbeitsvertrags18. Daraus ergibt sich weiter zwingend, dass eine Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag nicht zur Tarifkonkurrenz führen kann19. Treten bei einer arbeitsvertraglichen Bezugnahme Kollisionen zwischen den in Bezug genommenen Tarifwerken auf, müssen die Kollisionen zuvörderst über die Auslegung der Bezugnahmeklausel ausgeräumt werden. Im übrigen hängt die

17 BAG 3. 11. 2004 AP BGB § 611 Lohnanspruch Nr. 28; vgl. Henssler FS BAG 2004 S. 683 ff.

18 Allgemeine Auffassung: BAG 7. 12. 1977 AP TVG § 4 Nachwirkung Nr. 9;

Däubler/Lorenz TVG, § 3 Rn. 223; Löwisch/Rieble TVG § 3 Rn. 241; aA v. Hoyningen-Huene RdA 1974, 138 ff..

19 BAG 29. 8. 2007 AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 61; 22. 10. 2008 NZA

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Wirkung der Bezugnahmeklausel davon ab, wie diese im Einzelfall ausgestaltet ist.

Die Bezugnahme hat regelmäßig konstitutive und nicht nur deklaratorische Bedeutung. Dies muss von vornherein in allen Fällen gelten, in denen der Tarifvertrag nicht normativ für das Arbeitsverhältnis gilt, da der Tarifvertrag hier nur über die Bezugnahme Wirkung für das Arbeitsverhältnis entfaltet. Eine konstitutive Regelung ist aber auch in anderen Fällen, insbesondere bei beiderseitiger Tarifbindung, anzunehmen, da weder Arbeitgeber noch Arbeitnehmer im Regelfall um die Tarifbindung der jeweils anderen Seite wissen. Um sicherzugehen, dass die Tarifverträge auch Anwendung finden sollen, müssen die Arbeitsvertragsparteien von einer konstitutiven Regelung der Bezugnahmeabrede ausgehen. Sind die Arbeitsvertragsparteien an einen anderen Tarifvertrag normativ gebunden, als an denjenigen, auf den im Arbeitsvertrag verwiesen wurde, gilt als Kollisionsregel grundsätzlich das Günstigkeitsprinzip20.

5. Verweisungsgegenstand

Die Arbeitsvertragsparteien können auf den einschlägigen Tarifvertrag verweisen. Das ist derjenige, in dessen Geltungsbereich das Arbeitsverhältnis fällt und der bei Tarifbindung der Arbeitsvertragsparteien gelten würde. Das ist der häufigste Fall und die Praxis bei tarifgebundenen Unternehmen.

Die Arbeitsvertragsparteien können aber grundsätzlich auch Tarifverträge eines anderen betrieblich/fachlichen, räumlichen oder zeitlichen Geltungsbereiches in Bezug nehmen, also abgelaufene oder branchenfremde Tarifverträge. Zulässig ist darüber hinaus grundsätzlich eine vollständige und auch eine teilweise Inbezugnahme eines Tarifvertrags.

6. Inhalt von Bezugnahmeklauseln

Man kann folgende Typen von Bezugnahmeklauseln unterscheiden:

Zunächst kann auf einen Tarifvertrag in einer ganz bestimmten Fassung

20 BAG 29. 8. 2007 AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 61 = NZA 2008, 364 unter ausdrückl. Aufgabe von BAG 23. 3. 2005 AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 29.

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verwiesen werden (statische Verweisung). In diesem Fall nimmt das Arbeitsverhältnis an den Änderungen des Tarifvertrags nicht teil. Als kleine dynamische Verweisung wird die Bezugnahme der jeweiligen Fassung eines bestimmten Tarifvertrags und als große dynamische Verweisung die Bezugnahme auf die jeweilige Fassung des einschlägigen Tarifvertrags bezeichnet. Diese Typologie ersetzt freilich nicht die genaue Auslegung der jeweiligen Vertragsklausel.

Das BAG hat eine dynamische Verweisung von tarifgebundenen Arbeitgebern bis ins Jahr 2005 im Zweifel als sogenannte Gleichstellungsabrede verstanden21. Mit einer solchen Verweisung will der tarifgebundene Arbeitgeber regelmäßig den Arbeitnehmer ungeachtet seiner Gewerkschaftszugehörigkeit so stellen, als sei dieser tarifgebunden.

Dies gilt aber nur, wenn der Tarifvertrag in Bezug genommen wurde, der ohnehin einschlägig ist und an den der Arbeitgeber gebunden ist. Die arbeitsvertragliche Verweisung ersetzt also insoweit die fehlende oder unsichere Tarifbindung des Arbeitnehmers. Bei zum Zeitpunkt der Vereinbarung der Bezugnahmeklausel nicht tarifgebundenen Arbeitgeber scheidet eine Gleichstellungsabrede nach Auffassung des BAG regelmäßig aus22.

In der Literatur wurde die Auslegungsregel als „Gleichstellungsabrede“

vor allem kritisiert, wenn und soweit dies im Wortlaut der entsprechenden Klausel nicht angelegt war. Dies war vor allem bei Veränderung der Tarifbindung des Arbeitgebers und/oder des Geltungsbereichs des Tarifvertrags problematisch. Außerdem führte das Konzept der

„Gleichstellungsabrede“ zu einer unterschiedlichen Behandlung von tarifgebundenen und ungebundenen Arbeitgebern dann, wenn der tarifgebundene Arbeitgeber den Verband verlässt oder anders aus dem Geltungsbereich des Tarifvertrags ausscheidet.

Der zuständige 4. Senat des BAG hat seine Rechtsprechung für nach dem 1. 1. 2002 abgeschlossene Arbeitsverträge geändert und hält insoweit an der Auslegungsregel der „Gleichstellungsabrede“ nicht mehr fest, sondern

21 BAG 4. 8. 1999 AP TVG § 1 Tarifverträge: Papierindustrie Nr. 14; 26. 9. 2001 AP TVG

§ 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 21; 21. 8. 2002 AP BGB § 157 Nr. 21; 27. 11.

2002 AP TVG § 4 Tarifkonkurrenz Nr. 20)

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wendet bei Auslegungszweifeln die Unklarheitenregel des § 305 c Abs. 2 BGB an23. Dies führt bei dynamischen Verweisungen in der Regel zu dem Tarifvertrag, der in der konkreten Prozesssituation für den Arbeitnehmer am günstigsten ist24. Mit dieser Rechtsprechung werden die Arbeitsvertragsparteien bei der Verwendung von Bezugnahmeklauseln grundsätzlich so gestellt, als seien beide tarifgebunden25. Die vertragsrechtliche Geltung des Tarifvertrags kann somit eine tarifvertragsrechtliche Geltung überdauern. Dies zeigt sich vor allem, wenn der bislang tarifgebundene Arbeitgeber den Tarifvertrags verlassen will.

7. Veränderungen der Geltung des Tarifvertrags auf Seiten des Arbeitgebers

a) Verbandsaustritt

Das bisherige Konzept des BAG von der Gleichstellungsabrede bei tarifgebundenen Arbeitgebern führt bei Geltungsveränderung des Tarifvertrag zur Gleichstellung mit tarifgebundenen Arbeitsverhältnissen.

Bei einem Verbandsaustritt des bislang tarifgebundenen AG wirkt der Tarifvertrag nach seinem Ablauf (§ 3 Abs. 3 TVG) noch nach (§ 4 Abs. 5 TVG). Die Bezugnahmeklausel verweist dann nur noch auf einen nachwirkenden Tarifvertrag. An späteren Änderungen haben die Arbeitnehmer auf Grund der Gleichstellungsabrede dann nicht mehr teil26. Dasselbe gilt im Ergebnis bei einer statischen Verweisung, da hier die Bezugnahme auf den bisherigen TV ohnehin allerdings ohne Dynamik erhalten bleibt.

Das neue Konzept des 4. Senats des BAG erhält nun dem Wortlaut der Vertragsklausel entsprechend die Dynamik bis zu dem Zeitpunkt, an dem

23 BAG 14. 12. 2005 AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 39; 18. 4. 2007 AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 53; 22. 10. 2008 NZA 2009, 151; 22. 4.

2009 NZA 2009, 1286.

24 DDBD/Däubler § 305 c BGB Rn. 24; aA BAG 24. 9. 2008 AP BGB § 305 c Nr. 11 = NZA 2009, 154.

25 Bepler Festschrift Arbeitsgemeinschaft Arbeitsrecht Deutscher Anwaltsverein 2006 S. 791, 805 f.

26 BAG 19. 2. 2003 AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 33 für sog. „kleine dynamische Verweisung“; 18. 4. 2007 AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 54; Schliemann ZTR 2004, 502, 508; aA Thüsing/Lambrich RdA 2002, 192, 203.

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das Arbeitsverhältnis nicht mehr unter den Geltungsbereich des ursprünglichen Tarifvertrags fällt27.

b) Verbandswechsel

Tarifrechtlich führt ein Verbandswechsel zur Tarifkonkurrenz, die nach den Grundsätzen der Sachnähe zugunsten des mitgliedschaftlich legitimierten, also zugunsten des Tarifvertrags des neuen Verbands aufgelöst werden muss. Dies bedeutet für als Gleichstellungsabreden verstandene Bezugnahmeklauseln: Eine kleine dynamische Bezugnahmeklausel kann nicht als sogenannte Tarifwechselklausel interpretiert werden28. Es bleibt also bei den ausdrücklich benannten Tarifvertrag in der zur Zeit des Endes der Nachbindung (§ 3 Abs. 3 TVG) geltenden Fassung. Eine große dynamische Bezugnahmeklausel konnte dagegen als Tarifwechselklausel ausgelegt werden29. Der Arbeitgeber kann sich mit einer Tarifwechselklausel vorbehalten, ein anderes Tarifwerk einzuführen30.

Die Rechtsprechung des BAG hatte nach ihrem neuen Konzept noch nicht ausdrücklich über eine solche große dynamische Verweisung zu entscheiden. Künftig muß eine derartige Vertragsklausel, die auch einen Wechsel in ein anderes Tarifwerk zulässt, eindeutig formuliert werden.

c) Betriebsübergang

Tarifrechtlich gilt nach § 613a Abs. 1 S. 2 – 4 BGB folgendes: Bei kongruenter Tarifgebundenheit von Arbeitnehmer und Arbeitgeber/Betriebserwerber werden die beim Betriebserwerber geltenden Tarifverträge normativ angewandt; § 613 a Abs. 1 S. 2 BGB gilt wegen § 613 a Abs. 1 S. 3 BGB nicht31. Bei inkongruenter Tarifbindung werden die beim Betriebsveräußerer geltenden Tarifnormen nach § 613 a Abs. 1 S. 2 BGB zum Inhalt des Arbeitsverhältnisses zum Zeitpunkt des Betriebsübergangs.

27 Vgl. Bepler FS Arge. ArbR DAV 2006 S. 791, 805 f.; BAG 18. 4. 2007 AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 53; BAG 22. 10. 2008 NZA 2009, 323.

28 BAG 30. 8. 2000 AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 12.

29 BAG 16. 10. 2002 AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 22.

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Die Auslegung von Bezugnahmeklauseln als Gleichstellungsabreden bedeutet dann: Eine kleine dynamische Bezugnahmeklausel führt zur weiteren Anwendung der Tarifverträge, an die der Betriebsveräußerer gebunden war, in der zur Zeit des Betriebsübergangs geltenden Fassung32. Dasselbe gilt für eine große dynamische Bezugnahmeklausel, wenn der Betriebserwerber überhaupt nicht oder an einen Tarifvertrag mit einer anderen Gewerkschaft gebunden ist. Ist der Betriebserwerber an einen Tarifvertrag mit derselben Gewerkschaft gebunden, kommt dieser zur Anwendung.

Kann die Bezugnahmeklausel nach dem neuen Konzept des BAG nicht als Gleichstellungsabrede ausgelegt werden, gilt folgendes: Die Dynamik bleibt bei dynamischen Verweisungsklauseln stets erhalten33. Eine Tarifwechselklausel muss eindeutig formuliert sein. Im Fall einer Tarifwechselklausel gilt der beim Erwerber geltende Tarifvertrag für sämtliche Arbeitnehmer nach § 613 a Abs. 1 S. 1 BGB; als weiterer Geltungsgrund tritt für Gewerkschaftsmitglieder im Fall beiderseitiger Tarifbindung nach § 613 a Abs. 1 S. 3 BGB die normative Wirkung des Tarifvertrags hinzu. Fehlt es an beiderseitiger Tarifbindung, kommt der Veräußerertarifvertrag für die Arbeitsverhältnisse der organisierten Arbeitnehmer weiterhin (statisch) nach § 613 a Abs. 1 S. 2 BGB und der Erwerbertarifvertrag über die als Tarifwechselklausel verstandene Bezugnahmeklausel nach § 613 a Abs. 1 S. 1 BGB zur Anwendung; die Bezugnahmeklausel kann nicht als Vereinbarung im Sinne von § 613 a Abs. 1 S. 4 Var. 2 BGB angesehen werden, da diese Vorschrift auf Vereinbarungen nach erfolgtem Betriebsübergang zugeschnitten ist34. Divergieren nach diesen Grundsätzen der kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahme anwendbare Tarifvertrag und der normativ nach §§ 3 Abs. 1, 4 Abs. 1 TVG in Verbindung mit § 613 a Abs. 1 S. 3 BGB geltende Tarifvertrag für dasselbe tarifgebundene Arbeitsverhältnis, muss zur Auflösung der Kollision das Günstigkeitsprinzip angewandt werden35.

32 BAG 14. 12. 2005 AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 39; 17. 11. 2010 NZA 2011, 356 für vor dem 1. 1. 2002 geschlossene BezugnahmeVereinb.; EuGH 9. 3.

2006 NZA 2006, 376.

33 BAG 18. 4. 2007 AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 53; 22. 10. 2008 NZA 2009, 323; 23. 9. 2009 NJW 2010, 1831; 24. 2. 2010 DB 2010, 1593.

34 Löwisch/Rieble Rn. 313; aA Bauer/Günther NZA 2008, 6, 11.

35 BAG 29. 8. 2007 AP TVG § 1 Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 61 = NZA 2008, 364.

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IV. Fazit

Diese letzten Überlegungen – vor allem zum Betriebsübergang - haben gezeigt, daß das deutsche System der Tarifgeltung – normativ und arbeitsvertraglich – relativ kompliziert wird. Das liegt daran, daß zumindest die tarifgebundenen Arbeitgeber gegenüber allen Arbeitnehmern unabhängig von ihrer Gewerkschaftszugehörigkeit im Arbeitsvertrag die Bezugnahme des für sie geltenden Tarifvertrags vereinbaren. Hierdurch kommt es zu einer Doppelung der Tarifgeltung, nämlich einer arbeitsvertraglichen und einer normativ tarifvertragsrechtlichen nach dem TVG. Bei Veränderungen im Geltungsbereich des Tarifvertrags – Verbandswechsel, Betriebsübergang – können wie ausgeführt die beiden rechtlichen Grundlagen verschiedene Wege gehen und somit verschiedene Tarifverträge zur Anwendung bringen. Eine derartige Kollision wird grundsätzlich nach dem Günstigkeitsprinzip aufgelöst. Im Ergebnis kann die neuere Rechtsprechung des BAG dazu führen, daß der Arbeitgeber vertragsrechtlich stärker an den Tarifvertrag gebunden wird als er dies tarifrechtlich wäre. Dies ist eigentlich eine kuriose Konsequenz.

Die Kautelarjurisprudenz versucht dies aufzufangen, indem sie arbeitsvertragliche Bezugnahmeklauseln entwickelt, bei denen der Zweck der Gleichstellung von tarifgebundenen und nicht tarifgebundenen Arbeitnehmern klarer als bisher zum Ausdruck kommt. Das ist aus meiner Sicht zwar nicht ganz einfach, aber durchaus machbar.

In der Wissenschaft wird inzwischen die Frage aufgeworfen, ob nicht ein Systemwechsel angezeigt wäre, der das Erfordernis beiderseitiger Tarifbindung für Individualnormen aufgibt und damit die Unterscheidung von Betriebsnormen und Individualnormen einebnet. Damit würde man zu einer sogenannten „Erga-omnes“-Wirkung des Tarifvertrags kommen, sobald nur der Arbeitgeber tarifgebunden ist.

Dies halte ich aus mehreren Gründen für problematisch:

Verfassungsrechtlich wegen der negativen Koalitionsfreiheit der Außenseiter, die nicht mehr untertarifliche Arbeitsbedingungen vereinbaren können. Außerdem ist der Mehrwert eines solchen Systemwechsels gering. Die Bezugnahmeklausel macht vor allem beim Betriebsübergang Schwierigkeiten. Dann sollte man aber besser die ohnehin mißglückte Vorschrift der §§ 613a Abs. 1 S. 2 – 4 BGB ändern.

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Abschluss und Inhalt von Tarifverträgen

RA Dirk W.Erlhöfer

Meine sehr geehrten Damen und Herren, A. Vorbemerkungen

nachdem mein Vorredner Sie mit dem Prinzip der Koalitionsfreiheit und den Tarifvertragsparteien als deren Akteure vertraut gemacht hat, möchte ich einige Informationen zu Tarifvertragsinhalten und zu typischen Verhandlungsszenarien geben. Ich tue dies als Verbandsgeschäftsführer und zugleich Mitglied von Tarifverhandlungskommissionen auf Landes- bzw. Bundesebene für drei Branchen, die Metall- und Elektroindustrie, die chemische Industrie sowie die Verpackungsindustrie. Den gesetzlichen Rahmen für meine Ausführungen bildet einerseits Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes, andererseits § 1 des Tarifvertragsgesetzes. Darüber hinaus ist Vieles im Tarifrecht – sowie allgemein im deutschen Arbeitsrecht – Richterrecht und Gegenstand von Diskussionen in der Wissenschaft.

Der erste Teil meiner Ausführungen befasst sich mit Fragen rund um den Inhalt von Tarifverträgen, der zweite Teil mit der Typologie von Verhandlungsszenarien. In einem kurzen dritten Teil befasse ich mich mit einigen allgemeinen tarifpolitischen Aussagen.

B. - Der Inhalt von Tarifverträgen

1. Von seiner historischen Aufgabenstellung her hat der Tarifvertrag im Wesentlichen vier Funktionen, vier Zwecke:

Die Schutzfunktion, die Verteilungsfunktion, die Ordnungsfunktion und schließlich die Friedensfunktion.

Arbeitgeberverbände Ruhr/Westfalen, Hauptgeschäftsführer, Bochum

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Zunächst also die Schutzfunktion: Der Tarifvertrag sollte und soll den einzelnen Arbeitnehmer vor einer einseitigen Festsetzung der Arbeits- vertragsbedingungen durch den Arbeitgeber schützen. Hintergrund ist dessen wirtschaftliche Überlegenheit. Das hat im Wesentlichen zwei Auswirkungen: Die Inhalte von Tarifverträgen sind Mindestbedingungen und deshalb grundsätzlich nicht zum Nachteil des Arbeitnehmers ab- änderbar (es sei denn, der Tarifvertrag lässt dies durch eine Öffnungs- klausel zu). Und zweitens wirken die Inhalte des Tarifvertrages bei beiderseitiger Tarifgebundenheit unmittelbar und zwingend auf das Arbeitsverhältnis ein. Die Einzelfragen der Tarifbindung hören Sie in dem anschließenden Vortrag, deshalb vertiefe ich diesen Punkt nicht.

Zur Verteilungsfunktion: Den angemessenen, den „gerechten“ Lohn zu finden, ist praktisch unmöglich. Die Frage der Angemessenheit, ja der Gerechtigkeit, ist immer das Ergebnis von Wertungen. Durch die Differenzierung der Entgeltfindung nach Entgeltgruppen – früher erfolgte darüber hinaus eine Differenzierung nach Arbeiter- und Angestelltenstatus - sorgen Tarifverträge für ein Mindestmaß an Ausgewogenheit. Den Gewerkschaften ist es darüber hinaus ein regelmäßiges Anliegen, untere Entgeltgruppen überproportional anzuheben oder gar ganz abzuschaffen.

Die Beseitigung als zu groß empfundener Entgeltspreizungen wird in der eigenen Mitgliedschaft typischerweise als „gerecht“ empfunden. Die Arbeitgeberseite steht derartigen strukturellen Veränderungen naturgemäß skeptisch gegenüber. Einfache, d.h. wenig wertschöpfende Arbeit wird damit überproportional verteuert und im internationalen Kontext nicht mehr wettbewerbsfähig. Ganz allgemein sichern Tarifverträge darüber hinaus eine regelmäßige Beteiligung der Arbeitnehmer am Wachstum des Bruttoinlandsprodukts.

Jetzt zur Ordnungsfunktion: Durch Typisierung der Arbeitsbedingungen erleichtern Tarifverträge den Abschluss von Arbeitsverträgen. Darüber hinaus erleichtert die Unveränderbarkeit während der Laufzeit die Planungssicherheit bei den Personalkosten. Eine ehemals wichtige Facette der Ordnungsfunktion haben Tarifverträge auf dem Weg in die Globalisierung weitgehend verloren: Die Sicherung der Gleichartigkeit von Wettbewerbsbedingungen. Seit der Binnenmarkt in den meisten Branchen einen häufig nur noch untergeordneten Teil zum Wert- schöpfungsprozess und damit zur Auftrags- und Umsatzsituation der

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immer weniger branchenbezogen, sondern abhängig von der Kunden- struktur und damit wesentlich individueller. Ein zu starrer Tarifvertrag ohne Öffnungsklauseln wirkt in diesem Fall kontraproduktiv.

Und schließlich zur Friedensfunktion: Der Tarifvertrag verhindert wäh- rend seiner Laufzeit Arbeitskämpfe, leistet also einen wesentlichen Beitrag zum sozialen Frieden in den Betrieben. Dazu an anderer Stelle mehr.

2. Ohne einem der nachfolgenden Vorträge vorgreifen zu wollen, ist an dieser Stelle zu erwähnen, dass Tarifverträge eine Doppelnatur haben: Sie entstehen wie Verträge, also durch Verhandlungen und Einigung, sie binden aber nach ihrem Zustandekommen nicht nur die Tarifvertrags- parteien selbst, sondern auch Dritte. Deshalb haben sie in dieser Hinsicht Wirkungen wie Gesetze, ohne freilich in einem förmlichen parla- mentarischen Gesetzgebungsverfahren zustande gekommen zu sein. Der Tarifvertrag unterteilt sich also in einen schuldrechtlichen Teil, der die Rechte und Pflichten der Tarifvertragsparteien festlegt und in einen normativen Teil, in dem die inhaltlichen Regelungen für die tarifgebun- denen Dritten niedergelegt sind. Die speziell in der chemischen Industrie neben Tarifverträgen sehr verbreiteten Sozialpartnervereinbarungen entfalten im Gegensatz zum Tarifvertrag nur schuldrechtliche, aber keine normativen Wirkungen.

Auf die Inhalte des normativen Teils des Tarifvertrages komme ich noch einmal zurück. Was sind die typischen Rechte und Pflichten im schuld- rechtlichen Teil des Tarifvertrages? Nun, es wird Sie vielleicht über- raschen, dass die Rechte und Pflichten der Tarifvertragsparteien dort typischerweise nicht wörtlich aufgenommen sind. Gleichwohl haben Friedenspflicht und Durchführungspflicht – das sind die Hauptpflichten im schuldrechtlichen Teil – unmittelbare Wirkungen zwischen den Tarif- vertragsparteien. Die Friedenspflicht löst die Verpflichtung aus, während der Laufzeit des Tarifvertrages inhaltliche Forderungen oder gar Arbeits- kämpfe über im Tarifvertrag geregelte Themen zu unterlassen. Damit verbunden ist die sogenannte Einwirkungspflicht, d. h. die Pflicht, die eigenen Mitglieder dazu anzuhalten, den abgeschlossenen Tarifvertrag anzuwenden und den sozialen Frieden zu wahren. Die Friedenspflicht ist

„relativ“, d. h. sie gilt nur für das Thema, das Inhalt des abgeschlossenen Tarifvertrages ist. Eine absolute Wirkung, dass während der Tariflaufzeit auch keine sonstigen Themen gefordert und ggf. erstreckt werden dürfen,

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besteht nur dann, wenn sie im Tarifvertragstext (ausnahmsweise) ausdrücklich niedergelegt ist. Die (relative) Friedenspflicht kann durch Vereinbarung von Verfahrensregelungen zur Schlichtung modifiziert werden. Ohne einem nachfolgenden Vortrag vorgreifen zu wollen, sei an dieser Stelle nur kurz erwähnt, dass z. B. in der deutschen Metall- und Elektroindustrie erst vier Wochen nach dem Laufzeitende von Tarif- verträgen Arbeitskämpfe möglich sind. Im Bereich der chemischen Industrie gilt während eines laufenden Schlichtungsverfahrens (welches bei Scheitern von Verhandlungen obligatorisch ist) weiterhin Friedens- pflicht.

Ein wichtiges Merkmal der Grobstruktur eines Tarifvertrages ist die Lauf- zeit, die bestimmt wird von Beginn und Ende. Der „normalste“ Anfangs- termin ist der nahtlose Anschluss an den Vorläufertarifvertrag, der freilich speziell bei Entgelttarifverträgen eher die Ausnahme geworden ist. Durch die Vereinbarung von sogenannten Null-Monaten, also Kalendermonaten ohne tabellenwirksame Entgelterhöhung, werden bei einem Tarifabschluss häufig Laufzeiten des Vorläufers verlängert. Entweder erfolgt statt der tabellenwirksamen Erhöhung überhaupt keine Zahlung für bestimmte Monate oder es wird lediglich eine Einmalzahlung ohne Dauerwirkung vereinbart. Damit schließen die Tarifverträge zwar juristisch nahtlos an, jedoch mit einer differenzierten Kostenwirkung für die Unternehmen.

Ebenfalls möglich ist ein Tarifvertragsabschluss mit Inkrafttreten der neuen Tarifkonditionen erst in der Zukunft, z.B. als Stufenmodell.

Und selbstverständlich kann ein Tarifvertrag auch rückwirkend in Kraft treten. Das ist z. B. bei Entgelterhöhungen für die Arbeitnehmer erfreulich und unproblematisch, für die Arbeitgeber bedeutet das eine kosten- trächtige doppelte Entgeltabrechnung. Bei Sanierungstarifverträgen für einzelne Unternehmen kann die rückwirkende Inkraftsetzung der Arbeit- geberseite Kostenentlastungen verschaffen und den Arbeitnehmern sogar Rechte aus Branchentarifverträgen nehmen (z.B. das nachträgliche Entfallen von Urlaubs- oder Weihnachtsgeld). Im Wirtschaftskrisenjahr 2009 waren solche Sondertarifverträge mit Rückwirkung in Deutschland nicht selten.

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Und nun noch ein kurzer Blick an das Ende der Tariflaufzeit:

Ein Tarifvertrag endet im Falle seiner Befristung mit Zeitablauf. Er endet ferner mit Eintritt einer auflösenden Bedingung, falls eine solche verein- bart wurde. Nach allgemeinem Vertragsrecht endet er auch mit seiner förmlichen Aufhebung und natürlich (hauptsächlich) mit seiner ordentli- chen oder ggf. auch außerordentlichen Kündigung. Typischerweise wird in jeden Tarifvertrag eine Mindestlaufzeit eingearbeitet. Das bedeutet, der Tarifvertrag ist vom Prinzip her unbefristet, bedarf also einer Kündigung mit entweder kürzerer (bei Entgelten) oder längerer Kündigungsfrist (bei Rahmen- oder Manteltarifverträgen). Die Mindestlaufzeit kommt dadurch zustande, dass die frühestmögliche Ausübung des Kündigungsrechts vom Ablauf einer bestimmten Kalenderzeit (z. B. ein Jahr oder mehrere Jahre) abhängig gemacht wird.

Die Möglichkeit der außerordentlichen Kündigung von Tarifverträgen ist spätestens seit den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts praktisch ausgeschlossen: Die Stufentarifverträge der Metall- und Elektroindustrie der neuen Bundesländer standen zwar unter dem Vorbehalt der Entwicklung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Die von Arbeit- geberseite ausgesprochene außerordentliche Kündigung wegen der wesentlichen Änderung von wirtschaftlichen Rahmenbedingungen wurde freilich von den Gerichten nicht als „Wegfall der Geschäftsgrundlage“ des Tarifvertrages anerkannt. Als praktische Schlussfolgerung bleibt die Erkenntnis, dass lange Tariflaufzeiten, verbunden mit festen Stufenplänen von Tariferhöhungen, in Zeiten eines volatilen wirtschaftlichen Umfeldes das Risiko der Arbeitgeberseite signifikant erhöhen. Gewerkschaften könnten auf eine lange Tariflaufzeit mit – nachträglich betrachtet – zu geringen Tariferhöhungen mit der Forderung als nach einem

„Tarifnachschlag“ reagieren. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die Tariflaufzeit in der Endphase von Tarifverhandlungen eine sehr wesent- liche Rolle spielt. Mit ihr lassen sich Kostenbelastungen steuern, wobei naturgemäß auch die Gefahr des Unter- oder Übersteuerns besteht.

Kommen wir bei der Grobstruktur nun zum räumlichen und fachlichen Geltungsbereich des Tarifvertrages. Man unterscheidet den Unter- nehmens- oder Haustarifvertrag (diesen schließt ein Arbeitgeber mit einer Gewerkschaft ab) vom Verbandstarifvertrag (hier ist Vertragspartner der Gewerkschaft immer ein Arbeitgeberverband, egal ob der Tarifvertrag für

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die ganze Branche oder nur für ein einziges Unternehmen abgeschlossen wird). Beim räumlichen Geltungsbereich unterscheidet man Bundestarifverträge (diese gelten für ganz Deutschland), regionale Tarifverträge (diese gelten für einen Tarifbezirk, der manchmal, aber nicht zwangsläufig identisch ist mit den politischen Grenzen eines Bundeslandes: und firmenbezogene Tarifverträge, deren Geltungsbereich entweder einen Betrieb, mehrere oder sogar alle Betriebe eines Unternehmens umfasst.

Im persönlichen Geltungsbereich ist festgelegt, welche Personengruppe von den Wirkungen des Tarifvertrages erfasst sein soll. Dies können alle Beschäftigten oder nur Beschäftigtengruppen sein (Auszubildende, Akademiker, Piloten, Krankenhausärzte, Lokführer, etc.). Keine tarifver- tragliche Regelungsbefugnis besteht bei außertariflichen Angestellten und bei sogenannten Leitenden Angestellten, weil deren Tätigkeit und Entgelt oberhalb der Merkmale der höchsten Tarifgruppe angesiedelt sind, so dass deren Arbeitsbedingungen individuell in Arbeitsverträgen geregelt werden.

3. An dieser Stelle meines Vortrags möchte ich Ihnen einen Überblick über typische Tarifmaterien geben und gleichzeitig auch Grenzen der tarifvertraglichen Regelungsmacht aufzeigen. Die Regelungsmacht ergibt sich hier übrigens mittelbar aus Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes.

Das Bundesverfassungsgericht, das höchste deutsche Gericht, hat den Grundsatz formuliert, dass einer tarifvertraglichen Regelung zugänglich sind (Zitat) „Regelungen von Leistungen und Verpflichtungen aus dem Arbeitsverhältnis und solcher Fragen, die im Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis stehen“(Zitatende).

Typische Themen in diesem Sinne sind die Arbeitsvergütung, die Arbeitszeit, die „allgemeinen“ Arbeitsbedingungen sowie Themen wie Qualifizierung, Rationalisierungsschutz und Besetzung von Arbeits- plätzen.

Nicht regelbar durch Tarifvertrag ist z.B. eine Änderung der bestehenden Behörden- und Verwaltungsorganisation, nach herrschender Meinung auch nicht die Einschränkung von Maschinenlaufzeiten durch Verkürzung von Arbeitszeiten. Ebenso wenig zulässig ist der tarifvertragliche Eingriff

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Erweiterung der Mitbestimmung in wirtschaftlichen Angelegenheiten unzulässig, die Organisation der Betriebsverfassung ist nur im Rahmen der bestehenden gesetzlichen Öffnungsklausel zulässig. Nicht zulässig sind darüber hinaus tarifvertragliche Eingriffe in das Privatleben, etwa durch verpflichtende Teilnahme an einem tarifvertraglich festgelegten Bildungsurlaub in der Freizeit.

Meine Damen und Herren, wenden wir uns nun etwas intensiver den

„klassischen“ Tarifmaterien zu: Auffällig ist, dass die Tarifwerke z. B. der Metall- und Elektroindustrie oder der chemischen Industrie von ihrem Umfang her stattliches Buchformat haben. Die Tarifthemen sind also häufig nicht in einem, sondern in mehreren Tarifverträgen geregelt. Das hat sowohl historische als auch thematische und verhandlungstaktische Gründe. Zwar finden sich in reinen Entgelttarifverträgen vorrangig Vergütungsregelungen. Daneben gibt es Entgeltrahmentarifverträge, aus denen sich die Eingruppierungsmerkmale für die tarifierten Tätigkeiten herleiten lassen. Mantel- bzw. Rahmentarifverträge sind mit Regeln rund um den Beginn, den Verlauf und Inhalt sowie das Ende von Arbeits- verhältnissen bestückt. Darüber hinaus gibt es Tarifverträge über Einzelthemen, die aus verschiedenen Gründen in eine eigenständige Regelung gebracht wurden. So z. B. Tarifverträge über vermögens- wirksame Leistungen, Qualifizierung, Beschäftigungssicherung, Sonder- zahlungen, etc. Dabei sind Verweisungen zwischen den Tarifverträgen, z.B. bei identischem Geltungsbereich oder zur Modifikation bereits bestehender Tarifregelungen, durchaus üblich. Wesentliche Gründe für eine separate Regelung liegen in der unterschiedlichen Laufzeit (Ent- gelttarifverträge haben in der Regel kürzere Laufzeiten, Mantel- und Rahmentarifverträge und Sonderthemen häufig deutlich längere) und in ihrem strategischen Zustandekommen. Nicht selten werden Tarifthemen bei ungekündigtem Fortbestand eines vorhandenen Tarifvertrages ver- handelt. Wenn man also dort Ergänzungen anbringen will, könnte dies als Ergänzungstarifvertrag geschehen. Je nach Thema und Ver- handlungssituation macht es jedoch Sinn, die Neuregelung in einen gesonderten Tarifvertrag einzubringen, der z.B. nur eine kurze Laufzeit hat, weil er befristete Sonderregelungen vorsieht. Oder es erscheint einfach tarifpolitisch nicht „opportun“, einen bestehenden Tarifvertrag als austarierten Kompromiss nachträglich aufzuschnüren. So wurden in den Krisenjahren 2009 und 2010 befristete Abweichungen von bestehenden

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Kurzarbeitsregelungen der Metall- und Elektroindustrie in einem sepa- raten Tarifvertrag geregelt.

Eine Besonderheit der Tarifvertragsgestaltung ist die inhaltsgleiche oder - ähnliche Übernahme von Gesetzesregelungen. So hat die Metall- und Elektroindustrie vor vielen Jahren die damaligen Regelungen zu den Kündigungsfristen bei Arbeitsverträgen inhaltsgleich aus dem Bürger- lichen Gesetzbuch übernommen. Anders die chemische Industrie: Hier wurde eine deutlich vom Gesetzeswortlaut abweichende Regelung getroffen. Beim Thema Entgeltfortzahlung in Krankheitsfall wurde die Frage relevant, als der Gesetzgeber vorübergehend die Zahlungspflicht der Arbeitgeber von 100 % auf 80 % herabsetzte. Man unterscheidet bloß deklaratorische oder konstitutive Übernahmen gesetzlicher Bestimmungen. Eine bloß deklaratorische Regelung nimmt jede gesetz- liche Änderung automatisch mit, eine konstitutive Regelung bleibt auch bei einer Gesetzesänderung zunächst unverändert bestehen, bis sie durch einen Änderungstarifvertrag ersetzt wird. Welche Form jeweils vorliegt, ist im Zweifel durch Auslegung zu ermitteln.

4. Wir kommen deshalb zum nächsten Themenblock bei der Inhalts- gestaltung von Tarifverträgen. Diese sind, meine Damen und Herren, das Ergebnis eines Interessenkonflikts, der im Wege des Kompromisses beigelegt wurde. Es kommt deshalb vor, dass bei der Tarifanwendung in den Unternehmen Auslegungs- und Streitfragen zu klären sind. An dieser Stelle offenbart sich ein wesentlicher weiterer Unterschied zum Parlamentsgesetz: Eine Inhaltskontrolle von Parlamentsgesetzen findet nach den Vorschriften des Grundgesetzes über das Bundesver- fassungsgericht statt, bei Tarifverträgen ist demgegenüber die Arbeits- gerichtsbarkeit zuständig. Dies geschieht in der Regel im Zusammenhang mit der Individualklage eines Arbeitnehmers, der tarifvertragliche Ansprüche gegenüber dem Arbeitgeber einklagt. Sofern die Auslegung des Tarifvertrages erforderlich wird, etwa weil dessen Wortlaut lückenhaft oder nicht eindeutig ist, gilt folgende Rangfolge von Auslegungs- grundsätzen:

Auszugehen ist vom Wortlaut der Tarifnorm. Hierbei ist grundsätzlich der allgemeine Sprachgebrauch eines Wortes zugrunde zu legen. Im Einzelfall kann auch die eventuell vorzufindende eigenständige Begriffsdefinition

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des Tarifvertrags eine Rolle spielen. Diese Wortlautinterpretation erfolgt typischerweise vom Zeitpunkt des Entstehens des Tarifvertrages.

Führt die Wortlautauslegung nicht zu einem eindeutigen Ergebnis, ist der Gesamtzusammenhang des Tarifvertrages in die Auslegung einzube- ziehen. Hier bietet sich an, etwa nach einer Begriffskonsistenz zu forschen oder der Frage nachzugehen, ob der tarifliche Gesamtzusammenhang hinsichtlich der streitbefangenen Materie etwa ein Regel-/Ausnahme- Prinzip oder ähnliches aufstellt. Auch können ggfs. andere Tarifverträge derselben Branche, sofern von denselben Tarifvertragsparteien stammend, ergänzend herangezogen werden.

Führt auch diese Auslegungsmethode nicht zu eindeutigen Ergebnissen, orientiert sich das Gericht an der tariflichen Zwecksetzung, also an den mutmaßlichen Vorstellungen der Tarifvertragsparteien bei Abschluss des Tarifvertrages. Herangezogen werden dabei evtl. vorhandene Protokoll- notizen oder – was sehr selten ist – evtl. vorhandene Protokolle über Tarifverhandlungen. Im Zweifel empfiehlt sich die nach der Prozess- ordnung zulässige Einholung einer Auskunft beider Tarifvertragsparteien (die übrigens durchaus divergierend, aber auch übereinstimmend sein kann!).

Führt auch diese dritte Auslegungsmethode nicht zum Erfolg, kann die Tarifgeschichte (also sämtliche Vorläuferregelungen), die Tarifübung (eine evtl. gleichbleibende ständige Anwendung in Kenntnis und mit Billigung beider Tarifvertragsparteien) und zu allerletzt die Zweckorientierung einer Tarifregelung, also deren „vernünftige gerechte und praktisch brauchbare“ Anwendung, eine Rolle spielen. Und schließ- lich haben die Arbeitsgerichte eine Tarifvertragsnorm so zu interpretieren, dass sie im Zweifel nicht gegen höherrangiges Gesetzes- oder Verfassungsrecht verstößt.

Ein Meinungsstreit betrifft die Frage, ob die Gerichtsbarkeit bei fest- gestellten Lücken im Tarifvertrag befugt ist, diese eigenständig durch Richterrecht zu schließen. Während eine Meinung die richterliche Rechtsfortbildung strikt ablehnt unter Hinweis auf Tarifautonomie und mangelnde Legitimation der Gerichte, befürwortet die andere die Rechtsfortbildung aus Gründen des Rechtsstaatsprinzips und des Verbots der Rechtsverweigerung. In der Praxis dürfte sich die Fragestellung dahin

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konkretisieren, ob es sich wirklich um die Neuschaffung eines bislang nicht geregelten Tatbestandes (im Sinne einer echten Ergänzung oder Abänderung) oder um ein schlichtes „Weiterdenken“ des tarifvertraglichen Sinngehalts handelt. Ich räume ein, dass im Einzelfall die Grenzen hier durchaus fließend sein können.

Zum nächsten Punkt:

5. Der Tarifvertrag kann gesetzliche Regelungen modifizieren. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit möchte ich Ihnen einige Beispiele aus Industrietarifverträgen nennen. Zu unterscheiden ist die originäre Regelungskompetenz der Tarifvertragsparteien von der durch gesetzliche Öffnungsklausel abgeleiteten Kompetenz.

(Zur originären Kompetenz:)

Bsp 1: Während das Bundesurlaubsgesetz einen gesetzlichen Mindesturlaub von 20 Tagen vorsieht, sehen praktisch alle industriellen Tarifverträge mittlerweile einen Erholungsurlaub von 30 Tagen vor.

Bsp 2: Während nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch insbesondere Zahlungsansprüche nach Ablauf von drei Jahren verjähren, sehen die meisten Tarifverträge eine wesentlich kürzere Verfallfrist (in der Regel zwischen zwei und drei Monaten) für derartige Ansprüche vor.

Bsp 3: Nach § 616 des Bürgerlichen Gesetzbuches erlangt ein Arbeit- nehmer bei besonderen Ereignissen (z. B. eigene Hochzeit, Geburt eines Kindes, Todesfall in der Familie und ähnliches) einen gesetzlich nicht näher definierten Freistellungsanspruch von der Arbeit unter Fortzahlung der Bezüge. In den Tarifverträgen z.B.

der Metall- und Elektroindustrie und der chemischen Industrie regeln sogenannte Freistellungskataloge die Art der Ereignisse und den Umfang der Freistellung und bewirken so faktisch eine Deckelung dieses gesetzlich unkonditionierten Anspruchs.

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