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Eine analyse der verfassungsanderungen in der Türkei vom 7. Mai 2010: ein schritt in richtung mehr demokratie?

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37_ Jg. Heft 22-23 - 17. Dezember 2010 - EuGRZ 2010/Seite 685

1.

Aufsatze

Eine Analyse der Verfassungsanderungen in der Tiirkei vom 7. Mai 2010:

Ein Schritt in Richtung mehr Demokratie?

von Ece Goztepe, Ankara J. Einleitung . .. .. .. . . .. .. .. .. . .. . .. .. . .. .. .. .. .. .. . .. . .. . .. . .. .. . . . 685

II. Ein Verfassun~iinderungsverfahren mit rechtlichen und politischen Kris~~ ···:···::···.··· 685 III. Die Verfassungsanderungen 1m Uberbhck . . . 686 1. Anderungen bei grundrechtlichen Bestimmungen .. .. . 686 a) Der Gleichheitsgrundsatz .. .. .. .. .. .. . .. .. .. .. .. .. .. .. . 686 b) Schutz personlicher Oaten .. .. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 688 c) Siedlungs- und Reisefreiheit ... 688 d) Schutz der Familie und Kinderrechte . . . 688 e) Recht auf Griindung von Arbeitnehmerverbanden 688 f) Recht auf Abschluss von Tarifvertragen . . . 688 g) Anderungen zum Streikrecht in Art. 54 . . . 689 h) Die_Ei~chtung einer

Biirgerbeauftragten-lnstitution . . . 689 2. Anderungen zur Gesetzgebung .. .. .. .. .. .. .. .. . .. .. .. .. .. . 689 a) Verlust des legislativen Mandats in Art. 84 .. .. .. .. . 689 b) Die Amtsdauer des Prasidiums der GroBen

Nationalversammlung in Art. 94 ... 689 3. Anderungen zur Exekutive .. .. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . 690 4. Anderungen zur rechtsprechenden Gewalt . . . 690

a) Kontrolle der Richter und Staatsanwalte in

Art. 144 .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. 690 b) Rechtsstaatliche Garantien in Art. 156 und 157 im

Rahmen der Militargerichtsbarkeit und die Ein-schrankung der Militargerichtsbarkeit in Art. 145 .. 690 c) Anderungen in der Struktur und den Kompetenzen

des Verfassungsgerichts .. . .. .. .. .. .. .. .. .. . .. .. .. .. .. .. 691 d) Anderungen in der Struktur des Hoben Rats der

Richter und Staatsanwalte (HRRS) .. .. .. .. .. .. .. .. .. 694 5. Die Aufhebung des Obergangsartikels 15:

Ein Weg zur Verantwortung der Putschisten

vom 12. September 1980? .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .. .. . .. .. .. .. 697 IV. Die Entscheidung des Verfassungsgerichts

vom 7.7.2010 fiber das Verfassungsanderungsgesetz ... 697 V. Fazit .. . .. . .. .. .. .. .. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. . .. .. .. .. . .. .. 698 I. Einleitung

Am 12. September 2010 haben die ttirkischen Wahler in einer Volksabstimmung iiber ein Verfassungsanderungs-gesetz abgestimmt. Nach dem offiziellen Ergebnis des Hohen Wahlrates wurde die Verfassungsanderung mit 57,88 % Ja-Stimmen angenommen.1 Das Datum der

Volks-abstimmung selbst war filr viele Wahler von groBer Bedeu-tung, da es der 30. J ahrestag des Militarputsches war, dessen Produkt die derzeit giiltige Verfassung ist. Das Ergebnis der Volksabstimmung wurde in vielen tiirkischen sowie auslan-dischen Zeitungen als ,,ein weiterer Schritt zur Demokratie" gefeiert. 2 Doch in Anbetracht dessen, dass der

Verfassungs-iinderungsprozess von heftigen politischen und juristischen Auseinandersetzungen begleitet wurde und eine nicht unbe-deutende Wahlerschaft gegen diese Verfassungsli.nderung gestimmt hat, ist eine nahere Analyse angebracht.

Die den Prozess begleitenden Diskussionen konnen nicht als politisch iibliche Auseinandersetzung der im Parlament vertretenen Parteien betrachtet werden, denn mehrere Stif-tungen, Berufsverbande, Universitatsmitglieder und ein-zelne Intellektuelle beteiligten sich an einer regen und kon-troversen Verfassungsdiskussion. Auch nach dem Ende des Referendums hat sich die Auseinandersetzung nicht beru-higt, da die nach dem verfassungsandemden Gesetz erfor-derlichen Ernennungen zum Verfassungsgericht und die Wahlen zum Hoben Rat der Richter und Staatsanwalte neue verfahrens- und materiellrechtliche Probleme auf-geworfen haben. Es muss festgestellt werden, dass die Ver-fassungsdiskussion hauptsachlich die Anderungen betraf,

die sich auf das Verfassungsgericht und den Hoben Rat der Richter und Staatsanwalte bezogen, wahrend die Anderun-gen im Bereich der Grundrechte und -freiheiten per se als positiv bewertet wurden. Doch bei naherer Betrachtung scheinen manche dieser Reformen juristisch problematisch zu sein. Daher ist es das Ziel dieses Beitrages, das gesamte Reformpaket aus verfahrens- und materiellrechtlicher Sicht zu analysieren und die Praxis nach dem Referendum anhand dieser Analyse zu bewerten.

II. Ein Verfassungsiinderungsverfahren mit rechtlichen und politischen Krisen

Cemil <;i~k, der Stellvertreter des Ministerprli.sidenten Recep Tayyip Erdogan, von der Regierungspartei AKP (Adalet ve Kalkmma Partisi / Gerechtigkeits- und Entwick-lungspartei) sagte in einem Interview mit dem Kolumnisten Murat Yetkin am 8. Januar 2010 in der Tageszeitung ,,Radi-kal", dass die Regierung derzeit nicht an eine Verfassungs-li.nderung denke, da das Mehrheitsverhli.ltnis im Parlament3

fur eine Verfassungsanderung mit breitem Konsens nicht gilnstig sei. Die Verfassungsli.nderung sei keine Sache der ein-fachen arithmetischen Mehrheit, sondem bedilrfe eines brei-ten Konsenses. Umso mehr iiberraschte es die ttirkische Of-fentlichkeit, als am 22. Marz 2010 auf der Intemetseite der Regierungspartei ein umfassender Gesetzesentwurf zur Ver-fassungsanderung bekannt gegeben wurde. Dieser Entwurf beinhaltete insgesamt 23 Artikel. Eine hitzige Diskussion ent-brannte und innerhalb von wenigen Tagen wurden sli.mtliche Artikel des Gesetzesentwurfs einer griindlichen Prilfung un-terzogen, wobei das Hauptaugenmerk der Diskussionen auf den Anderungen zur rechtsprechenden Gewalt lag.

Die beschriebene Vorgehensweise der Regierung war problematisch, da laut Art. 175 der Verfassung die

Ande-* Dr. iur. habil. Ece Goztepe, LL.M., Dozentin an der Juristi-schen Fakultat der Bilkent Universitat (Ankara/Tiirkei), lehrt tiir-kisches und vergleichendes Verfassungsrecht. Die Verfasserin be-dankt sich ganz herzlich bei Frau Dr. Anja Appel fiir ihre wert-volle Kritik und Korrektur der ersten Fassung des Textes. Artikel ohne nahere Angaben sind die der tiirkischen Verfassung.

1 Amtsblatt vom 23.9.2010, Nr. 27708. Den Ergebnissen zufolge stimmten 42,12 % der Wahler mit Nein. Die Wahlbeteiligung lag bei 73,71 %.

2 Siebe fiir die deutsche Presse: ,,Tiirkische Verfassungsreform

-Ein Schritt in die richtige Richtung", Frankfurter Allgemeine Zei-tung vom 13.9.2010 (Online-Ausgabe); Thomas Seibert, ,,Die Tiir-kei, demokratisch wienie zuvor", ZEIT-Online vom 13.9.2010; ,,In der Tiirkei gewinnt die Demokratie", ZEIT-Online vom 13.9.2010;

Kai Strittmatter, ,,Volksabstimmung iiber Verfassungsreform.

Tiir-ken entscheiden sich fiir mehr Demokratie", Siiddeutsche Zeitung vom 13.9.2010, S. 1. Michael Thumann, ,,Beim tiirkischen Referen-dum verliert die alte Elite", ZEIT-Online vom 16.9.2010.

3 Gegenwartig sind in der Tiirkischen Nationalversammlung

acht Parteien vertreten. Vier davon bilden eine Fraktion. Die Re-gierungspartei AKP verfiigt iiber 336 Mandate; die Oppositions-parteien CHP (Cumhuriyet Halk Partisi / Republikanische Volks-partei) iiber 101 Mandate, MHP (Milliyetr;i Hareket Partisi / Na-tionalistische Bewegungspartei) iiber 70 Mandate, BDP (Ban§ ve Demokrasi Partisi / Friedens- und Demokratiepartei) iiber 20 Mandate, DSP (Demokratik Sol Parti / Demokratische Linkspar-tei) iiber 6 Mandate und DP (Demokrat Parti / Demokratische Partei) iiber 1 Mandat sowie TP (Tiirkiye Partisi / Tiirkeipartei) ebenfalls iiber 1 Mandat. Weitere 7 Abgeordnete sind parteilos (Stand: 20.11.2010).

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EuGRZ 2010/Seite 686 -Aufsatze - Goztepe

rung der Verfassung von mindestens einem Drittel der Ge-samtzahl der Mitglieder des Parlaments schriftlich vor-geschlagen werden kann. Bei Verfassungsanderungsvor-schlagen handelt es sich also zumindest formal nicht um ei-nen Vorschlag einer Partei oder mehrerer Fraktioei-nen, son-dern um einen Vorschlag einer bestimmten Anzahl von Abgeordneten. Damit wird die Konsensfunktion des Ver-fassungsanderungsverfahrens betont.

Am 30. Marz 2010 wurde der ursprtingliche Gesetzesent-wurf mit einigen Anderungen dem Parlamentsprasidium vorgelegt. Doch ein kleiner Skandal, der am 1. April in allen Tageszeitungen stand, warf ein verfahrensrechtliches Prob-lem auf. Der Abgeordnete der Oppositionspartei CHP und Mitglied der parlamentarischen Verfassungskommission Isa Gok erklarte in einer Presseerklarung, <lass dem Gesetzes-entwurf zwei unterschiedliche Unterschriftenlisten bei-geftigt worden seien, womit klar sei, <lass viele Abgeordnete eine Blanko-Unterschrift geleistet hatten - ohne Kenntnis des Inhalts des Gesetzesentwurfs. Zudem standen auch der Name und die Unterschrift des Parlamentsprasidenten Mehmet Ali ~ahin auf der Liste, obwohl Art. 94 Abs. 5 der geltenden Verfassung die Unparteilichkeit des Parlaments-prasidenten vorschreibt. Aufgrund dieser Tatsache wurden die Erfordernisse der politischen Ethik zu einem weiteren Diskussionspunkt auf der politischen Tagesordnung. 4 Die

Regierungspartei leugnete die Vorwtirfe einige Tage lang, <loch schlieBlich zogen einige Abgeordnete ihre Untersttit-zung ftir den Gesetzesentwurf zurtick, so dass die erforderli-che Anzahl von Abgeordneten nicht mehr erreicht wurde. Aus diesem Grunde nahm das Parlamentsprasidium den Entwurf von der Tagesordnung. Am 5. April wurde ein wie-derum geanderter Gesetzesentwurf beim Parlamentsprasi-dium eingereicht. Diese verfahrensrechtlichen Sonderheiten bzgl. der Vorbereitung des Gesetzesentwurfs und der Par-lamentsvorlage sind in der ttirkischen Verfassungsgeschichte einmalig. Wenngleich formal betrachtet keine Verfassungs-widrigkeit vorliegt, ist es bedenkenswert, mit welcher Leichtfertigkeit und Eile die Verfassungsanderung in die Wege geleitet wurde.

m. Die Vedassungsiinderungen im Uberblick

Die Verfassungsanderungen umfassten ursprtinglich 27 Artikel. Doch der die politischen Parteien betreffende Ar-tikel erhielt im Parlament bei der zweiten Lesung nicht die erforderliche Mehrheit und wurde zurtickgezogen. Der er-wahnte Artikel hatte die Kontrollbefugnis tiber die Finan-zen der politischen Parteien vom Verfassungsgericht weg hin zum Rechnungshof verlagert, <lessen Mitglieder vom Parlament gewahlt werden. Noch zentraler ware die grundlegende Anderung des Parteiverbotsverfahrens ge-wesen. Demnach hatte tiber einen Verbotsantrag vorerst eine parlamentarische Kommission mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit entscheiden sollen, die aus je ftinf Mitgliedern aus der zum Zeitpunkt des Antrages der Generalstaats-anwaltschaft der Republik im Parlament vertretenen Frak-tionen hatte bestehen sollen. Erst nach einer positiven Entscheidung der Kommission hatte das Verfassungs-gericht tiber den Verbotsantrag entscheiden konnen. Diese Regelung wurde in erster Linie von Oppositionsparteien wie der CHP und der MHP heftig kritisiert, da dadurch ein Verbotsverfahren gegen die AKP mithilfe der prokur-dischen Partei BDP unmoglich gemacht worden ware. Letztendlich erhielt dieser Artikel nicht die erforderlichen Stimmen und fiel aus dem Anderungsgesetz heraus.

Die Themenfelder des dem Referendum vorgelegten Gesetzes konnen folgendermaBen aufgelistet werden:

- Anderungen zu Grundrechten und Grundfreiheiten

(f\.rt.

10, 20, 23, 41, 51, 53, 54, 74),

- Anderungen zur Gesetzgebung und Exekutive (Art. 84, 94, 125, 128, 129),

- Anderungen zur rechtsprechenden Gewalt (Art. 144. 145,146,147,148,149,156,157,159),

- Anderungen zu wirtschaftlichen Vorschriften (Art.166), - Aufhebung des Obergangsartikels 15, 5 der die

Re-chenschaftspflicht aller Putschisten vom 12. Septem-ber 1980 verhinderte, und

- zwei Obergangsartikel, die nach einem erfolgreichen Referendum die unmittelbar durchzuftihrenden Wah-len sowie das Wahlverfahren zum Verfassungsgericht und zum Rohen Rat der Richter und Staatsanwalte regeln sollten.

In der _politischen Diskussion herrschte fast Konse~s tiber die Anderungen zu den Grundrechten und -freihe1-ten. Es wurde sogar betont, <lass die Regierungspartei ihr eigentliches Ziel, namlich die Justiz der Exekutive zu un-terstellen und damit deren Unabhangigkeit zu schwachen, <lurch die Verschonerung der neuen Grundrechtsregelun-gen verschleiern wollte. Der an der New School for Social Research in New York lehrende Politikwissenschaftler An-drew Arato, der seit langem die Verfassungsentwicklungen in der Ttirkei verfolgt, nannte diese Strategie der Regie-rung ,,eine Zwiebel, auf deren Herzsttick es ankommt", namlich die Anderungen zur rechtsprechenden _pewalt. 6

Doch bei naherer Betrachtung !assen auch die Anderun-gen zu den Grundrechten und -freiheiten manche Beden-ken aufkommen.

1. Anderungen bei grundrechtlichen Bestimmungen a) Der Gleichheitsgrundsatz

Art. 10 Abs. 2 lautete vor der Anderung wie folgt:

,,Frauen und Manner haben die gleichen Rechte. Der Staat ist verpftichtet, die tatsiichliche Durchsetzung der

Gleichbe-rechtigung zu verwirklichen." 7 Mit dem Anderungsgesetz

wurde dieser Absatz um den folgenden Satz erganzt:

,,Maf3nahmen zur Verwirklichung dieses Ziels konnen nicht als ein Verstof3 gegen das Gleichheitsprinzip interpretiert

werden." Im darauf folgenden neu hinzugeftigten dritten

Absatz wurde der Kreis der Begtinstigten erweitert: ,,Die

4 Art. 94 Abs. 5: ,,Der Prasident und die Vize-Prasidenten

diir-fen sich an der Tatigkeit der politischen Partei oder Fraktion, der sie angehoren, innerhalb und auBerhalb der Nationalversamrnlung und an den Debatten der Nationalversammlung, soweit es ihre Amter nicht erfordem, nicht beteiligen; der Prasident und der die Sitzung leitende Vize-Prasident diirfen nicht mit abstimmen."

5 Ubergangsartikel 15 Abs. 1 und 2: ,,Eine strafrechtliche,

fi-nanzielle oder sonst rechtliche Verantwortlichkeit fiir jede Art von Entscheidungen und Verfiigungen des durch Gesetz Nr. 2356 begriindeten Nationalen Sicherheitsrates, der in der Zeit bis zur Bildung des Prasidiums durch die aus den ersten allgemeine~ Wahlen hervorgehende GroBe Nationalversammlung der Tiirke1 im Namen des Tiirkischen Volkes die Kompetenzen der Gesetz-gebung und vollziehenden Gewalt ausiibt, der in der Regierungs-zeit dieses Rates begriindeten Regierungen sowie der Beratend~n Versammlung, die ihr Amt gemaB dem Gesetz Nr. 2485 iiber die Verfassunggebende Versammlung ausiibt, darf nicht geltend ge-macht werden und hierzu auch keinerlei Gerichtsbehorde angeru-fen werden.

Die Vorschriften des vorstehenden Absatzes gelten auch fiir diejenigen, welche in Anwendung dieser Entscheidungen und Ver-fiigungen durch die Verwaltung oder durch fiir zustandig erklarte Organe, Behorden und Bedienstete Entscheidungen und Ver-fiigungen treffen und jene anwenden." . (Ubersetzung von Prof. Dr. Christian Rumpf" www.tuerke1-recht.de). Soweit nicht anders vermerkt, hat die Ve~asserin fiir die deutsche Version der tiirkischen Verfassung diese Ubersetzung im Wesentlichen iibemommen. Doch wahrend der Vorbereitung dieses Aufsatzes lag noch keine Ubersetzung der Verfassungs-anderungen vom 7. Mai 2010 vor.

6 Interview rnit Devrim Sevimay in der Tageszeitung ,,Milliyet" vom 26.-27. April 2010, S. 10.

7 Die Verfasserin weicht in der Ubersetzung dieses Artikels von

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Goztepe - Eine Analyse der Verfassungsanderungen in der Tiirkei 2010 - EuGRZ 2010/Seite 687

MaJJnahmen zum Schutz der Kinder, der A/ten, der Behin-derten, der Witwen und Waisen der im Krieg und bei Erfill-[ung ihrer Pflicht Gefallenen sowie der Invaliden und Vete-ranen gelten nicht als Verstoj3 gegen das

Gleichheitsprin-zip." Auf den ersten Blick scheinen diese Erganzungen ein bedeutender Schritt in Richtung Gleichberechtigung und sozialstaatliche Ftirsorge zu sein. Doch nach einer his-torischen sowie materiellrechtlichen Prtifung erweisen sie sich als gegenstandslos.

Art. 10 Abs. 2 wurde am 7. Mai 2004 mit dem Verfassungs-anderungsgesetz Nr. 5170 in die Verfassung eingeftigt. 8 Diese

Anderung war Tei! eines Reformvorhabens, das zur Erfill-Jung der Kopenhagener Kriterien ftir die Mitgliedschaft in der Europaischen Union vorgesehen war. Die Begrtindung dieser Anderung, der Bericht der parlamentarischen Verfas-sungskommission sowie die Protokolle der Parlamentssit-zung, in denen tiber diesen Gleichberechtigungsabsatz dis-kutiert wurde, sind ftir die Feststellung deren Sinns und In-halts von groBer Bedeutung. In der Begrtindung wird auf die von der Ttirkei ratifizierten internationalen Vertrage und die Grundrechtecharta des Verfassungsentwurfs der Eu-ropaischen Union hingewiesen, die die tatsachliche Verwirk-lichung der Gleichberechtigung ohne Rticksicht auf das Ge-schlecht vorschreiben. In der ursprtinglichen Form der neuen Regelung begntigte man sich nur mit dem Satz ,,Frauen und Manner haben die gleichen Rechte." Nach umfangreichen

Diskussionen in der parlamentarischen Verfassungskommis-sion iiber die erforderlichen SondermaBnahmen zur Errei-chung der tatsachlichen Gleichberechtigung einigte man sich auf den zweiten Satz nach dem Modell des deutschen Grundgesetzes. Die Aufforderung der Abgeordneten von der Oppositionspartei CHP, mit einem dritten Satz klar und deutlich festzulegen, dass vortibergehende SondermaBnah-men zur tatsachlichen Durchsetzung der Gleichberechtigung nicht gegen das Gleichheitsprinzip verstoBen, wurde von der Regierungspartei AKP nicht angenommen. 9

Wahrend der Verhandlungen im Parlament erklarte der Vorsitzende der parlamentarischen Verfassungskommission Burhan Kuzu (Mitglied der Regierungspartei), dass sie als Partei sich bei der zur Diskussion stehenden Regelung das deutsche Grundgesetz zum Vorbild genommen hatten und demnach keine derlei erklarende Erganzung notig ware, da SondermaBnahmen diesem neuen Absatz immanent seien. Dieses Argument konnte auch durch Art. 4 Abs. 1 der UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminie-rung der Frau (CEDAW) untersttitzt werden, der festhalt, dass zeitweilige SondermaBnahmen der Vertragsstaaten zur beschleunigten Herbeiftihrung der De-facto-Gleichberech-tigung von Mann und Frau, nicht als Diskriminierung im Sinne der Konvention gelten.10 Die UN-Konvention wurde

am 14.10.198511 und das Fakultativprotokoll von 2000 am 18.9.200212 von der Ttirkei ratifiziert. GemaB Artikel 90

Abs. 5 der ttirkischen Verfassung haben die internationalen Vertrage Gesetzeskraft und nach der Verfassungsanderung vom 7. Mai 200413 finden die Vorschriften von den die

Grundrechte und -freiheiten betreffenden Abkommen ge-geniiber innerstaatlichen Bestimmungen mit kollidieren-dem bzw. unterschiedlichem Regelungsgehalt vorrangige Anwendung. Aufgrund dieser Diskussionen im Verfassungs-gesetzgebungsverfahren sowie der verfassungsrechtlichen Regelung, die der CEDAW im Falle einer Kollision mit gel-tendem tiirkischem Recht eine bevorzugte Stellung im tiir-kischen Rechtssystem zuspricht, hatte man erwarten kon-nen, dass die parlamentarische Mehrheit zwischen 2004-2010 die erforderlichen GleichstellungsmaBnahmen in die Wege leitet. Besonders das unproportionale Geschlech-terverhaltnis im Parlament und in anderen politischen Am-tem ist Grund daftir, dass die Ttirkei im Gender Gap Report des Weltwirtschaftsforums auf Platz 99 von 134 Landero steht. 14 In den letzten sechs Jahren nach Aufnahme des staatlichen Auftrages zur Verwirklichung der

Geschlechter-gleichberechtigung wurde in keinem der Problembereiche eine gesetzgeberische MaBnahme getroffen. Aus diesem Grunde kann festgehalten werden, dass der neu hinzuge-ftigte Satz in Art. 10 Abs. 2 eine Wiederholung des dem Ab-satz immanenten Sinns und Zwecks ist und solange der poli-tische Wille seine bisherige Einstellung nicht andert, keine weitere Bedeutung haben wird.

Der ebenfalls neu hinzugeftigte Abs. 3 in Art. 10 stellt eine andere Eigenartigkeit dar, da der Betroffenenkreis nicht Tei! von oben genannten vorilbergehenden

Sonder-maBnahmen sein kann. Nach standiger Rechtsprechung des ttirkischen Verfassungsgerichts bedeutet Gleichheit nicht faktische Gleichheit, sondern rechtliche Gleichheit. Das heiBt, dass Personen mit gleichem rechtlichen Status gleich behandelt werden mtissen, wobei faktische Beson-derheiten wie Schutzbedtirftigkeit als Rechtfertigung fiir SondermaBnahmen gelten. 15 In der Verfassung sind bereits mehrere Schutzgebote fiir bestimmte Personengruppen vorgesehen. Angefangen im Sozialstaatsprinzip in Art. 2 regelt Art. 41 Abs. 216 den Schutz der Familie, insbeson-dere der Mutter und der Kinder; Art. 50 Abs. 1 und 217

die Arbeitsbedingungen und die zu beachtenden Sondersi-tuationen sowie Art. 61 die im Hinblick auf die soziale Si-cherheit besonders Schutzbedtirftigen. 18 In Anbetracht der

8 Veroffentlicht im Amtblatt vom 22.5.2004, Nr. 25469. 9 Siehe den Bericht der Verfassungskommission iiber <las

Ver-fassungsanderungsgesetz (2/278), Legislaturperiode: 22, Gesetz-gebungsjahr: 2, S.-Nummer: 430; die Verhandlungsprotokolle des Parlaments vom 4. Mai 2004.

10 ,,Damit sind beispielsweise gesetzliche Quotenregelungen ge-meint, die dazu fiihren sollen, <lass Frauen so lange bevorzugt in Bereiche aufgenommen werden, in denen sie bislang unterrepra-sentiert waren, bis sie an diesen Bereichen tatsachlich gleichbe-rechtigt teilhaben und in ihnen vertreten sind", Hanne-Beate

Schopp-Schilling, Was ist CEDAW?, Die UN-Konvention zur

Be-seitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau. Menschen-rechte von Frauen und was sie bedeuten, Bundeskanzleramt Os-terreich, Wien, 2009, S. 20.

11 Amtsblatt (RG) vom 14.10.1985, Nr. 18898.

12 Amtsblatt (RG) vom 18.9.2002, Nr. 24880.

13 Gesetzesnummer 5170, veroffentlicht im Amtsblatt (RG)

vom 22.5.2004, Nr. 25469.

14 Gender Gap Report 2010 (World Economic Forum) (http:// www.weforum.org/pdf/gendergap/report2010.pdf) (letzter Zugriff am 15.10.2010).

15 E. 2008/110, K. 2010/55 vom 1.4.2010 E. 2006/159, K. 2010/47 vom 24.3.2010; E. 2008/19, K. 2010/17 vom 28.1.2010; E. 2006/116, K. 2009/125 vom 1.10.2009; E. 2006/166, K. 2009/113 vom 23.7.2009. [,,E." ist die Abkiirzung fiir <las Eingangsaktenzeichen, bei dem die Zahl am Ende angibt, um <las wievielte in dem jeweiligen Jahr eingegangene Verfahren es sich handelt, und ,,K." ist die Abkiirzung fiir <las Entscheidungsaktenzeichen, bei dem die Zahl am Ende an-gibt, die wievielte Entscheidung in dem angegebenen Jahr dies ist. Beide Angaben werden immer zusammen aufgefiihrt.]

16 ,,Der Staat trifft die notwendigen MaBnahmen und griindet die notwendigen Einrichtungen, um <las Wohl und Heil der Fami-lie sowie insbesondere den Schutz der Mutter und der Kinder und die Vermittlung [des Wissens] und Anwendung der Familienpla-nung zu gewahrleisten".

17 Art. 50 lautet:

,,Niemand darf mit Arbeiten beschaftigt werden, die mit seinem Alter, seinem Geschlecht und seiner Kraft nicht vereinbar sind. Minderjahrige und Frauen sowie ktirperlich und geistig Behin-derte werden im Hinblick auf die Arbeitsbedingungen beson-ders geschiitzt."

18 Art. 61 lautet (Hervorhebung hinzugefiigt):

,,Der Staat schiitzt die Witwen und Waisen der im Krieg und bei Erfiillung ihrer Pflicht Gefallenen, die lnvaliden und Veteranen und sorgt fiir einen angemessenen Lebensstandard fiir sie in der Gemeinschaft.

Der Staat trifft die MaBnahmen zur Gewahrleistung des Schut-zes der Behinderten und ihrer Eingliederung in <las

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EuGRZ 2010/Seite 688 -Aufsiitze - Gtiztepc

Vielfalt von verfassungsrechtlichen Regelungen, die die in Art. 10 Abs. 3 aufgezahlten Personen betreffen, ist die Frage unerlasslich, welchem Ziel diese Wiederholung die-nen soil. Bis heute gibt es kein einziges Urteil des Verfas-sungsgerichts, das ein Gesetz mit entsprechenden Sonder-maBnahmen filr verfassungswidrig erklart oder die verfas-sungsrechtliche Grundlage bemangelt hatte. Es bleibt nur zu hoffen, dass die parlamentarische Mehrheit die Neu-regelung zum Anlass nimmt, einen grundlegenden Fort-schritt beim Schutz des erwahnten Personenkreises zu ini-tiieren.

b) Schutz personlicher Daten

Art. 20 mit der Oberschrift ,,Intimitat und Schutz des Privatlebens" wird um einen dritten Absatz erweitert. Der neu hinzugefilgte Absatz lautet: ,,Jeder hat das Recht da-rauf, dass seine personlichen Daten geschiitzt werden. Dies beinhaltet das Informationsrecht iiber die eigenen personli-chen Daten, den Zugang zu diesen Daten, das Anforde-rungsrecht, die Daten zu iindern oder loschen zu !assen und zu erfahren, ob die Daten fiir ihren vorgesehenen Zweck genutzt werden. Personliche Daten werden nur in durch Gesetz bestimmten Fallen oder gemii/3 dem ausdriick-lichen personausdriick-lichen Wunsch des Betroffenen bearbeitet. Die Grundsiitze und Verfahren zum Schutz van personlichen

Daten werden durch Gesetz geregelt." 19

Es ist begrill3enswert, <lass der Schutz personlicher Oaten als Grundrecht in die Verfassung aufgenommen wurde. Ein entsprechendes Gesetzesvorhaben liegt dem Parlament be-reits seit dem 24. April 2008 vor und wird mit der neuen ver-fassungsrechtlichen Regelung im kommenden Jahr in Kraft treten. Angesichts der Skandale bzgl. unerlaubten Telefon-abhorens, Speicherns von Fotos und anderen digitalen Auf-nahrnen, die auf die defizitare Anwendung von straf- und verfahrensrechtlichen Regelungen zurtickzufilhren sind, ware jedoch ein qualifizierter Gesetzesvorbehalt wiln-schenswert gewesen, der der parlamentarischen Mehrheit spezifische Beschrankungsgrilnde als Grenze gesetzt und die sog. Schranken-Schranken dieses Grundrechts nicht auf die allgemeine Klausel von Art. 13 reduziert hatte. 20 Zurnin-dest sollte als nachster Schritt an die Einrichtung einer kon-trollierenden Institution wie eines Beauftragten filr Daten-schutz gedacht werden, da die sich tiberstilrzenden technolo-gischen Entwicklungen eine effektive Durchfilhrung dieser Aufgabe im Rahmen der ordentlichen ministeriellen Ar-beitsaufteilung fast unmoglich machen.

c) Siedlungs- und Reisefreiheit

Die vorherige Fassung von Art. 23 Abs. 5 sah vor, <lass die Ausreisefreiheit eines Staatsbilrgers aus Grtinden der staatsbilrgerlichen Pflicht oder der Ermittlungen oder Ver-folgung in Strafsachen beschrankt werden konnte. In der Verfassung sind nur der Wehrdienst (Art. 72) und die Steu-erpflicht (Art. 73) als staatsbilrgerliche Pflichten definiert. Mit der neuen Fassung wird ,,die staatsbilrgerliche Pflicht" aus dem Text entfernt, womit also Steuerschulden oder das Versaumnis der Wehrpflicht nicht als Ausreisebeschran-kung gelten werden. Zudem wird zukilnftig bei der Ein-schrankung der Ausreisefreiheit aufgrund einer Ermittlung oder Verfolgung in Strafsachen ein richterlicher Beschluss erforderlich sein. Diese Anderung stellt eindeutig eine Starkung dieses Grundrechts dar.

d) Schutz der Familie und Kinderrechte

Die bisherige Oberschrift von Art. 41 wird um den Zu-satz ,,Kinderrechte" erweitert. Mit zwei zusatzlichen Ab-satzen sind folgende Regelungen eingefilhrt:

,,ledes Kind hat das Recht auf Schutz und Fiirsorge und das Recht, eine personliche und direkte Beziehung zu sei-nen Eltern aufzubauen und zu erhalten, solange dies nicht eindeutig gegen das Wohlergehen des Kindes verstoj3t.

Der Staat trifft alle notwendigen Maj3nahmen, um Kinder

var allen Formen des Missbrauchs und der Gewalt w

schiitzen."

Diese Neuregelung ist nichts Weiteres als die Wieder-holung der Regelungen des Obereinkommens Uber die Rechte des Kindes der Vereinten Nationen, das die Tiirkei am 27. Januar 1995 ratifiziert hat. Zudem tragen die or-dentlichen Gerichte und der Kassationshof mit ihrer stan-digen Rechtsprechung zum Wohlergehen des Kindes bei. indem sie die Vorschriften des Bilrgerlichen Gesetzbuches und des Obereinkommens Uber die Rechte des Kindes

zu-gunsten des Kindes auslegen. 21 Selbst Art. 17 der Verfas-sung, der die Unantastbarkeit sowie die materielle und ide-elle Existenz der Person schiltzt, konnte nach der Recht-sprechung des Verfassungsgerichts dem Schutz von Kin-derrechten als verfassungsrechtliche Grundlage dienen. wobei gegen die stetig steigende Gewalt und den sexuellen Missbrauch von Kindern in den letzten zehn Jahren vom Gesetzgeber keine entsprechenden MaBnahmen getroffen wurden. Aus diesem Grunde ist zu befilrchten, <lass auch diese verfassungsrechtliche Anderung keine materielle Verbesserung in Sachen Kinderrechten bewirkt.

e) Recht auf Griindung van Arbeitnehmerverbiinden

Das Verbot, gleichzeitig in mehr als einer Gewerkschaft oder einem Verband in derselben Branche Mitglied zu sein, wird mit dem verfassungsandernden Gesetz aufgeho-ben. Die Verfassung von 1982 hat die sozialen Rechte zwar in einem relativ weiten Umfang aufgenommen, <loch die Regelungen ilber die Arbeitnehmerverbande und das Streikrecht hatten den Sinn, diese Grundrechte soweit wie moglich einzuschranken. In den letzten achtundzwanzig Jahren ist das Organisations- und Interessenbewusstsein der Arbeitnehmer deutlich zurilckgegangen, so <lass zu

vermuten ist, <lass die Aufhebung des Verbots kaum eine Wirkung zeigen wird.

f) Recht auf Abschluss van Tarifvertriigen

1995 wurde mit einer Verfassungsanderung in Art. 53 festgelegt, <lass die Gewerkschaften und Dachorganisatio-nen von offentlich Bediensteten und Beamten mit der Ver-waltung ihren Zwecken entsprechend Tarifverhandlungen

filhren dtirfen. Wenn nach den Tarifverhandlungen eine Vereinbarung erzielt werden konnte, so sollte der verhan-delte Text von den Parteien unterzeichnet und zum Zwe-cke der Ergreifung angemessener VerwaltungsmaBnahmen

--+

Die Alten werden vom Staat geschiltzt. Die staatliche Hilfe und

die anderen zu gewiihrenden Rechte und Erleichterungen fiir die Alten werden durch Gesetz geregelt.

Der Staat trifft MaBnahmen aller Art, um die schutzbediirftigen

Kinder der Gemeinschaft zuzufiihren.

Er grilndet die zu diesen Zwecken notwendige Organisation und Einrichtungen oder !asst sie grilnden."

19 Bei der Ubersetzung der neuen verfassungsrechtlichen Rege-lungen ins Deutsche hat die Verfasserin den Bericht der Friedric?-Ebert-Stiftung von Juli 2010 als Grundlage genommen und dte Ubersetzung mit einigen Korrekturen ilbemommen. Siehe den Be-richt der Friedrich-Ebert-Stiftung, Fokus Ttirkei, Nr. 2, Juli 2010.

20 ,,Die Grundrechte und -freiheiten konnen mit der MaBgabe, dass ihr Wesenskem unberilhrt bleibt, nur aus den in den betref-fenden Bestimmungen aufgefilhrten Grunden und nur <lurch Ge-setz beschriinkt werden. Die Beschriinkungen dilrfen nicht gegen Wortlaut und Geist der Verfassung, die Notwendigkeiten einer de-mokratischen Gesellschaftsordnung und der Iaizistischen Republik sowie gegen den Grundsatz der VerhiiltnismaBigkeit verstoBen."

21 Siehe nur fiir einige neuere Beispiele E. 2009/16484, K. 2010/6308 vom 1.4.2010; E. 2009/2-71, K. 2009/115 vom 11.3.2009 (GroBe Zivilkammer des Kassationshofes); E. 2007/5-253, K. 2008/52 vom 11.3.2008 (GroBe Strafkammer des Kassationshofes).

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Goztepe - Eine Analyse der Verfassungsiinderungen in der Ttirkei 2010 - EuGRZ 2010/Seite 689

dem Ministerrat zur weiteren Veranlassung unterbreitet werden. Wenn am Ende der Tarifverhandlungen keine Vereinbarung vorlag, wurden diejenigen Punkte, i.iber die eine Einigung erzielt werden konnte, und diejenigen, Uber die keine Einigung vorlag, in ein von den Parteien zu un-terzeichnendes Protokoll aufgenommen und zur weiteren Veranlassung dem Ministerrat vorgelegt. Die Verfahren im Zusammenhang mit der Durchfilhrung dieses Absatzes waren mit einfachem Gesetzesvorbehalt versehen. Im glei-chen Absatz war auch vorgesehen, dass die Gewerkschaf-ten und Dachorganisationen im Namen ihrer Mitglieder vor den Gerichten Klage erheben konnen. Dieses Recht war zugleich im § 19f des Gewerkschaftsgesetzes von of-fentlich Bediensteten im Gesetz Nr. 4688 verankert. 22

Mit der neuen Regelung vom 7. Mai 2010 wird nun filr offentlich Bedienstete und Beamte vom Recht auf einen

Tarifvertrag gesprochen. Wenn wahrend der

Tarifverhand-lungen keine Vereinbarung getroffen werden kann, kon-nen sich die Parteien an eine Schlichtungskommission filr offentlich Bedienstete und Beamte (Kamu Gorevlileri Ha-kem Kurulu) wenden. Die Entscheidungen dieser Korn-mission sind unanfechtbar und gelten als Tarifvertrag. Der Umfang, die Ausnahmen, die Begilnstigten des Rechts auf Tarifvertrag, die Form, das Verfahren und das Inkrafttre-ten des Tarifvertrags sowie die Grilndung, die Arbeits-weise und -prinzipien der Schlichtungskommission werden durch Gesetz geregelt.

Man konnte annehmen, dass eine Schlichtungskornmission im Vergleich zum Ministerrat politisch objektiver und unvor-eingenommener arbeiten und schlichten konnte. Doch ange-sichts des einfachen Gesetzesvorbehalts liegt es im Ermessen der parlamentarischen Mehrheit, sprich der Exekutive, wie diese Schlichtungskornmission zusammengesetzt wird und wie sie arbeitet. Die gr6Bte Schwache dieses neu verfassten Artikels liegt darin, dass das Tarifverhandlungsrecht nicht von einem Streikrecht begleitet wird. In modernen Rechts-staaten ist es seit langem mit einigen wenigen Ausnahmen eine Selbstverstandlichkeit, dass auch die offentlich Bediens-teten und Beamten als untrennbarer Bestandteil ihres Tarif-vertragsrechts das Streikrecht genieBen. Ohne das Streik-recht kann man nicht von einer tatsachlichen Verhandlungs-moglichkeit sprechen. Daher wird sich auch nach der Na-mensanderung bei den sozialen Rechten der offentlich Bediensteten und Beamten nichts Grundlegendes andern.

Zuletzt soll die Streichung eines Halbsatzes erwahnt werden, die in der offentlichen Diskussion keine Aufmerk-samkeit fand. In der vorherigen Fassung von Art. 53 war, wie bereits erwahnt, festgeschrieben, dass die Gewerk-schaften und Dachorganisationen von offentlich Bediens-teten und Beamten im Namen ihrer Mitglieder vor Gericht Klage erheben konnen. Dieses Recht wurde mit der aktu-ellen Anderung gestrichen. Ober den Grund und Zweck dieser Entscheidung gibt es weder in der Gesetzesbegriln-dung noch in den Sitzungsprotokollen des Parlaments Hin-weise. Auch wenn dieses Recht der Gewerkschaften im § 19f des Gewerkschaftsgesetzes von offentlich Bediens-teten im Gesetz Nr. 4688 noch verankert ist, fehlt nun die-sem Recht die verfassungsrechtliche Grundlage.

g) Anderungen zum Streikrecht in Art. 54

In der alten Fassung von Art. 54 Abs. 3 und 7 fanden sich umfangreiche Verbote, die das Streikrecht betrafen:

,,(III) Sind wiihrend des Streiks als Folge von vorsiitzlichen oder fahrliissigen Handlungen von am Streik beteiligten Ar-beitnehmem oder der Gewerkschaft an dem bestreikten Be-trieb <lurch sie verursachte Schiiden aufgetreten, haftet die Ge-werkschaft.

(VII) Streik und Aussperrung mit politischem Zweck, Solidari-tiitsstreik und -aussperrung, Generalstreik und -aussperrung, Betriebsbesetzung, Arbeitsverzogerung, Herabsetzung der Effi-zienz und andere Widerstandsaktionen sind unzuliissig."

Beide Verbote wurden nun aufgehoben. Die Haftung filr die verursachten Schaden wahrend des Streiks liegt nun bei den Arbeitnehmern. Ober die Wirkung der Aufhebung des 7. Absatzes herrscht in der Literatur die Meinung, dass der Umfang des Streikrechts nicht als erweitert betrachtet wer-den kann, da gemaB Art. 54 Abs. 1 das Streikrecht immer noch auf das Auftreten eines Konfliktes wahrend des Ab-schlusses eines Tarifvertrages beschrankt bleibt. 23

h) Die Einrichtung einer Bi1rgerbeauftragten-Institution

Das Petitionsrecht in Art. 74 wird um das Informations-recht und die Einrichtung einer Bi.irgerbeauftragten-Institu-tion erweitert. Demnach haben alle das Recht auf Informa-tion und das Recht, sich mit Anliegen an einen Bi.irgerbeauf-tragten zu wenden. Diese Institution wird dem Parlament unterstellt und untersucht die Beschwerden i.iber die Ver-waltung. Der Bilrgerbeauftragte wird vom Parlament filr die Dauer von vier Jahren in geheimer Abstimmung ge-wahlt. In den ersten beiden Abstirnmungen ist eine Mehr-heit von zwei Dritteln und in der dritten Abstirnmung die absolute Mehrheit der Gesamtzahl der Mitglieder erforder-lich. Kommt in der dritten Abstimmung eine absolute Mehr-heit nicht zustande, wird mit den beiden Kandidaten mit den meisten Stirnmen eine vierte Abstirnmung durchgefi.ihrt; der Kandidat, der in der vierten Abstirnmung die meisten Stirn-men erhalt, ist als Bi.irgerbeauftragter gewahlt. Auch hier sind die Errichtung, die Aufgaben und die Arbeitsweise der Institution mit einem einfachen Gesetzesvorbehalt ver-sehen. Es ware wi.inschenswert gewesen, den Einfluss der Exekutive auf diese Institution zu minimieren, indem durch eine qualifizierte Mehrheit ein parteii.ibergreifender Kon-sens fi.ir die Wahl notwendig gewesen ware, um somit die Unabhangigkeit des Bi.irgerbeauftragten zu gewahrleisten.

2. Anderungen zur Gesetzgebung

a) Verlust des legislativen Mandats in Art. 84

In dem verfassungsandernden Gesetz sind nur zwei An-derungen zur Gesetzgebung vorgesehen. Die erste in Art. 84 war im Zusammenhang mit der Anderung des Par-teiverbotsverfahrens in Art. 69 gedacht. Auch wenn dieser Artikel in der zweiten Lesung nicht die erforderliche Mehrheit erhielt und aus dem Anderungsgesetz herausfiel, wurde an der Anderung zum Verlust des legislativen Man-dats festgehalten. In der alten Fassung von Art. 84 Abs. 5 hieB es: ,,Das Mandat des Abgeordneten, dessen Auj3erun-gen und HandlunAuj3erun-gen in der unanfechtbaren Entscheidung des Verfassungsgerichts als Ursache fur die endgiiltige Schliej3ung der Partei bezeichnet werden, endet mit der Be-kanntmachung der begriindeten Entscheidung im Amts-blatt. Das Prasidium der Groj3en Nationalversammlung vollzieht diese Entscheidung unverzuglich und informiert das Plenum." Dieser Absatz wurde jetzt aufgehoben.

So-mit konnen diese Abgeordneten nach der SchlieBung ihrer Partei als unabhangige Parlamentarier im Parlament ihrer politischen Tatigkeit nachgehen und die Interessen ihrer urspri.inglichen Wahlerschaft verteidigen.

b) Die Amtsdauer des Prasidiums der Groj3en National-versammlung in Art. 94

Dieser Artikel sollte urspri.inglich im Rahmen der Ver-fassungsanderung vom 31. Mai 2007 geandert werden, da

22 Ftir das Recht der offentlich Bediensteten auf Grtindung von Gewerkschaften und Ftihrung von Tarifverhandlungen siehe die Entscheidung des EGMR, der die Verletzung der genannten Rechte <lurch die ttirkische Regierung feststellte, Demir und Bay-kara (Nr. 34503/97), Urt. v. 12.11.2008 (GroBe Kammer).

23 Vgl. die Meinungen von Sozialrechtsexperten wie Mesut Giil-mez und Aziz <;:elik in einem Interview tiber das Verfassungsiinde-rungsgesetz, die Tageszeitung ,,Cumhuriyet" vom 30.9.2010, S. 7.

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EuGRZ 2010/Seite 690 -Aufsatze- Goztepe

die Amtsdauer des Priisidiums des Parlaments von der Dauer der Legislaturperiode abhiingt. 2007 wurde die Le-gislaturperiode von filnf auf vier J ahre verkilrzt. Doch in der Hektik der damaligen politischen Diskussionen um die Wahl des Staatspriisidenten hat das Parlament diese Angleichung versiiumt. Nun ist festgelegt, <lass filr das Prii-sidium in einer Legislaturperiode zwei Wahlen durch-gefilhrt werden. Die Amtsdauer der zuerst Gewiihlten be-triigt zwei, die der filr den zweiten Zeitabschnitt Gewiihl-ten dauert bis zum Ende der Legislaturperiode. Doch auch 2010 hat man eine weitere erforderliche Angleichung, niimlich die Zwischenwahlen vergessen. Noch heute ist der Kalender filr Zwischenwahlen auf eine Legislaturperiode von filnf Jahren abgestellt. 24

3. Anderungen zur Exekutive

Art. 125 der Verfassung gilt seit dem Inkrafttreten der Verfassung von 1982 als eine ,,Aber"-Klausel zu rechtsstaat-lichen Prinzipien. Der erste Satz ,,gegen jede Art von

Ver-waltungshandeln und Verwaltungsakten steht der Rechtsweg

often" ist der Grundsatz eines rechtsstaatlichen Prinzips,

wobei in dem darauf folgenden Absatz Ausnahmen vorgese-hen sind. Demnach sind die Akte, welche der Priisident der Republik allein erliisst, und die Entscheidungen des Rohen Militii.rrates von der gerichtlichen Nachprilfung ausgeschlos-sen. Nach der neuen .Anderung wird eine dieser Ausnahmen teilweise aufgehoben. Demnach sind die Entscheidungen des Rohen Militii.rrats, auBer Suspendierungen vom Dienst, Beforderungen und Renteneintrittsentscheidungen auf-grund fehlender Stellen, gerichtlich iiberprilfbar. Es bleibt unklar, warum nicht gegen alle Entscheidungen des Rohen Militii.rrats, die ohne Zweifel Verwaltungsakten sind, der Rechtsweg moglich ist. In der juristischen Literatur wird diese Einschriinkung seit dem Inkrafttreten der Verfassung von 1982 als ein VerstoB gegen das Rechtsstaatsprinzip be-trachtet und deren Aufhebung gefordert. Auch in Art. 129 Abs. 3 wurde gegen die Disziplinarentscheidungen iiber Be-amten die gerichtliche Oberprilfung ohne Ausnahme er-moglicht, die bisher nur auf die Strafen der Verwarnung und des Verweises beschriinkt war.

Zuletzt wurde Art. 125 Abs. 4 um einen Halbsatz erwei-tert. Die bisherige Fassung lautete folgendermaBen: ,,Die

Kompetenz der Rechtsprechung ist auf die Nachpriifung der Rechtmiif3igkeit des Verwaltungshandelns und der Ver-waltungsakte beschriinkt. Es darf keine gerichtliche Ent-scheidung getroffen werden, welche die Erfiillung der Auf-gabe der vollziehenden Gewalt gemii/3 Form und Verfahren, wie sie im Gesetz bestimmt sind, beschriinkt, die den Cha-rakter von Verwaltungshandeln oder eines Verwaltungs-aktes hat oder das Ermessen aufhebt."

Dieser Absatz ist in der Tat eine Wiederholung des Sinns der Gewaltenteilung und des Kompetenzbereichs der Judi-kative. Doch die stetig steigende Spannung zwischen der Exekutive und der Judikative in der Regierungszeit der AKP in den letzten acht J ahren hat die politische Diskussion in der Hinsicht bestimmt, <lass der Judikative immer wieder vorgeworfen wurde, statt die Rechtmii.Bigkeit von Gesetz-gebungs- oder Verwaltungsakten zu iiberprilfen, den politi-schen Ermessensspielraum der Exekutive der gerichtlichen Kontrolle zu unterwerfen. Daher wurde in Absatz 4 hin-zugefilgt, <lass die Judikative nicht die politische Konfor-mitii.t eines Verwaltungsakts zum Gegenstand ihrer Ober-prilfung machen darf. Inwieweit dieses Verbot in der Wirk-lichkeit durchgesetzt werden kann, ist fraglich. Vielmehr ist der hinzugefilgte Satz eine Art Mahnung an die Judikative, um kiinftigen Spannungen vorzubeugen.

4. Anderungen zur rechtsprechenden Gewalt

Die .Anderungen zur rechtsprechenden Gewalt, ins-besondere die iiber das Verfassungsgericht und den Rohen Rat der Richter und Staatsanwiilte (HRRS), haben den

ge-samten Prozess der Verfassungsiinderung hauptsiichlich bestimmt. Dem Politikwissenschaftler Arato25 ist in seiner

Feststellung zuzustimmen, <lass diese .Anderungen das Herzstilck des Reformpakets und des Referendums waren. Neben diesen grundlegenden .Anderungen wurden in Ver-bindung mit der neuen Struktur des HRRS eine neue Pro-zedur in der Kontrolle der Richter und Staatsanwiilte ein-gefilhrt sowie der Kompetenzbereich der Militiirgerichts-barkeit eingeschriinkt.

a) Kontrolle der Richter und Staatsanwiilte in Art. 144

Die bisherige Regelung sah vor: ,,Die Kontrolle dariiber,

ob die Richter und Staatsanwiilte ihre Aufgaben den Geset-zen, Rechtsverordnungen und Runderlassen (fur die Richter Runderlasse mit Verwaltungscharakter) entsprechend erfiil-len; die Untersuchungen daruber, ob sie durch ihr Amt oder wiihrend der Ausubung ihres Amtes eine Straftat begangen haben, ihr Verhalten und ihre Handlungen den Erfordernis-sen ihrer Stellung und ihres Amtes entsprechen; und erforder-lichenfalls Nachforschungen und Ermittlungen gegen sie mit Zustimmung des Justizministeriums von Inspektoren der Jus-tiz durchgefuhrt werden. Der JusJus-tizminister kann die Ermitt-lungs- und Nachforschungsgeschiifte durch einen Richter oder Staatsanwalt ausfiihren Lassen, der einem hoheren Rang angehort als derjenige, gegen welchen die Ermittlungen und Nachforschungen stattfinden ".

Die Inspektoren der Justiz erfiillten ihre Aufgaben im Rahmen der Inspektionskommission, die dem Justizminis-terium zugeordnet war. Nach der neuen Regelung treten neben lnspektoren der Justiz (adalet miifetti~i) auch interne

Priifer (if denetfi) auf. Demnach werden die Kontrolle der

Justizdienste und der Staatsanwiilte im Rahmen ihrer

ver-waltungsrechtlichen Aufgaben <lurch das Justizministerium

mithilfe von Inspektoren der Justiz und internen Prilfem, die Richter oder Staatsanwiilte sind, durchgefilhrt. Alles Weitere wird <lurch Gesetz geregelt. In der Begriindung dieser .Anderung heiBt es, <lass die Kontrolle von Richtem und Staatsanwiilten zu ihren judikativen Aufgaben dem Hoben Rat der Richter und Staatsanwiilte iibertragen (in Art. 159) und das Justizministerium nicht mehr dafilr zu-stiindig sein wird. Daher ist es von groBer Bedeutung, die neue Struktur des HRRS richtig zu beurteilen, da die Un-abhiingigkeit der Justiz mit dieser Kompetenzverlagerung begriindet wurde.

b) Rechtsstaatliche Garantien in Art. 156 und 157 im Rah-men der Militiirgerichtsbarkeit und die Einschriinkung der Militiirgerichtsbarkeit in Art. 145

Der Kompetenzbereich der Militiirgerichtsbarkeit wurde mit der Verfassung von 1982 im Vergleich zur vor-herigen Verfassung von 1961 deutlich erweitert. Dieser Umstand war einer der wichtigsten Kritikpunkte in vielen Fortschrittsberichten der Europii.ischen Union iiber die Tiirkei26 sowie bei den innerstaatlichen Aufforderungen

zur Verwirklichung von rechtsstaatlichen Prinzipien. Das Verfassungsgericht hatte in seiner Entscheidung vom 7. Mai 200927 zwar die rechtsstaatlichen Garantien auch fiir

die Militii.rgerichte als Voraussetzung filr die

Unabhiingig-24 Art. 78 Abs. 3: ,,Werden in der Gro8en Nationalversamm-lung der Tiirkei Mandate frei, findet eine Zwischenwahl statt. Die Zwischenwahl wird in der Wahlperiode einmal durchgefiihrt. die Zwischenwahl findet nicht vor Ablauf von dreiBig Monaten nach der allgemeinen Wahl statt. Hat aber die Zahl der freigewor-denen Mandate ein Fiinftel der Gesamtzahl der Mitglieder er-reicht, wird beschlossen, die Zwischenwahlen innerhalb von drei Monaten durchzufiihren."

25 Siebe Fn. 6.

26 Siebe zuletzt KOM(2009)533 endg.

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Goztepe - Eine Analyse der Verfassungsanderungen in der Ttirkei 2010 - EuGRZ 2010/Seite 691

keit der Justiz betrachtet, doch allein diese Garantie reichte fiir die Einrichtung einer zivilen Gerichtsbarkeit nicht aus. Nach der Verfassungsanderung in den Art. 156 und 157 werden Aufbau, Arbeitsweise, Verfahren und Dis-ziplinar- und Personalangelegenheiten der Angehorigen des Militarkassationshofs sowie des Rohen Militarverwal-tungsgerichtshofs gemaB den Erfordernissen der Unabhan-gigkeit der Gerichte und der Richtergarantie geregelt. Die Erfordernisse des Militardienstes spielen bei der Regulie-rung der obengenannten Bereiche keine Rolle mehr.

Die alte Fassung sah in Art. 145 vor, dass diesen Gerich-ten die Durchftihrung von Verfahren bzgl. rnilitarischer Straftaten von Militarpersonen oder Straftaten obliegt, welche diese Militarpersonen gegentiber anderen Militar-personen oder in rnilitarischen Bezirken oder im Zusam-menhang mit dem Militardienst begangen haben. In der neuen Fassung werden in diesem Absatz die in rnilitari-schen Bezirken begangenen Straftaten dem Kompetenz-bereich der Militargerichte entzogen. Zudem sind Strafta-ten gegen die Sicherheit des Staates und die verfassungs-rechtliche Ordnung ohne Ausnahme vor zivile Strafge-richte zu bringen.

Im zweiten Absatz ist rnit der Anderung garantiert, dass Zivilpersonen auBer im Kriegszustand nur von zivilen Ge-richten verurteilt werden ki:innen. Dementsprechend wurde auch im dritten Absatz der Ausnahmezustand als Ausnahme von der zivilen Gerichtsbarkeit gestrichen. Diese Anderung ist besonders fiir Militardienstverweigerer ein revolutionarer Fortschritt, da sie bisher als Soldat be-handelt und ihnen vom Militargericht der Prozess gemacht wurde. Zurn Schluss kann festgehalten werden, dass rnit diesen Anderungen zwar die Militargerichtsbarkeit auf-rechterhalten und auch die DisziplinarmaBnahmen gegen Soldaten nicht Zivilgerichten tiberlassen wurde, doch trotzdem ist die Einschrankung des Kompetenzbereichs der Militargerichte zu begrtiBen.

c) Anderungen in der Struktur und den Kompetenzen des

Verf assungsgerichts

i. Die Wahl der Mitglieder des Verfassungsgerichts

Das Ttirkische Verfassungsgericht wurde rnit der Verfas-sung von 1961 gegrtindet und ist somit eines der altesten Verfassungsgerichte im kontinentaleuropaischen Raum. Mit der Verfassungsanderung von 1971 wurden die Kom-petenzen des Verfassungsgerichts eingeschrankt und dieser Trend setzte sich auch wahrend des Verfassungsgebungs-prozesses in 1982 fort. Somit wurde die Zahl der Klagebe-rechtigten deutlich verringert; dem Verfassungsgericht stringente Grenzen bei der Oberprtifung der Verfassungs-maBigkeit von Gesetzen gesetzt und bei der konkreten Normkontrolle eine zeitliche Hurde vorgesehen. 28

Die Wahl der Mitglieder des Verfassungsgerichts erfolgte in der Verfassung von 1961 aus drei Arbeitsbereichen: aus den obersten Gerichten (insgesamt acht ordentliche Mitglie-der und drei ErsatzrnitglieMitglie-der); aus den beiden Kammern des Parlaments (insgesamt fiinf ordentliche Mitglieder und zwei Ersatzrnitglieder) sowie aus der Bestimmung durch d~n Staatsprasidenten (zwei ordentliche Mitglieder). Mit d1eser Einteilung wurde die demokratische Legitimation des Verfassungsgerichts zum groBen Teil gewahrleistet. Doch mit der Verfassung von 1982 wurde die Bestimmung der Mitglieder rnit gewissen Einschrankungen ausschlieBlich dem Staatsprasidenten tiberlassen. GemaB Art. 146 be-stimmt der Staatsprasident bislang elf ordentliche und vier Ersatzmitglieder. Diese Personen stammten aus den Reihen des Kassationshofes, des Staatsrates, des Militarkassations-hofes, des Rohen MilitarverwaltungsgerichtsMilitarkassations-hofes, des Rechnungshofes und auf Vorschlag des Rochschulrates aus den Reihen der Universitaten. Ftir jede vakante Position wurden drei Kandidaten vorgeschlagen. Weitere drei

or-dentliche Mitglieder und ein Ersatzmitglied durfte der Staatsprasident aus den Reihen der leitenden Beamten und Rechtsanwalte nach eigenem Ermessen ernennen. Mit die-sem Wahlprozedere wurde das Parlament von der Ernen-nung der Mitglieder des Verfassungsgerichts ganz aus-geschlossen. Nach dem Inkrafttreten der Verfassung 1982 wurde besonders in der akadernischen Literatur immer wie-der wie-der Bedarf nach demokratischer Legitimation des Ver-fassungsgerichts betont und gefordert, dem abzuhelfen. In der Begrtindung des aktuellen verfassungsandernden Geset-zes wurde dieses Argument aufgegriffen.

Nach der neuen Regelung wird die Zahl der Verfas-sungsrichter auf siebzehn erhi:iht, aber lediglich drei von ihnen werden vom Parlament gewahlt. Die restlichen vier-zehn Mitglieder werden wie bisher vom Staatsprasidenten ernannt, wobei zehn von ihnen aus den von den jeweiligen Institutionen aufgestellten Kandidatenlisten (rnit jeweils drei Kandidatenvorschlagen) und vier nach eigenem Er-messen des Staatsprasidenten aus den Reihen der leiten-den Beamten, Rechtsanwalte, der Richter und Staats-anwalte erster Klasse sowie den Berichterstattern 29 am Verfassungsgericht, die seit mindestens fiinf J ahren am Ge-richt tatig sind, ausgewahlt werden. Wie zu sehen ist, ist der Forderung nach mehr demokratischer Legitimation minimal gentige getan. Auch nach der neuen Fassung des Artikels bleibt der Staatsprasident der hauptsachliche Ak-teur bei der Bestimmung der Mitglieder des Verfassungs-gerichts.

Ein anderer Kritikpunkt betrifft das Entscheidungsquo-rum des Parlaments bei der Wahl der Mitglieder des Ver-fassungsgerichts sowie das Spektrum der zur Wahl stehen-den Kandidaten. Nach der neuen Fassung von Art. 146 wird im Parlament in maximal drei Wahlgangen abge-stimmt. Ftir jede vakante Position stehen drei Kandidaten zur Wahl und in der ersten Abstimmung ist eine Mehrheit von zwei Dritteln erforderlich. Falls diese Mehrheit nicht erreicht wird, reicht im zweiten Wahlgang die absolute Mehrheit der Gesamtzahl der Abgeordneten. Kommt auch in der zweiten Abstimmung eine absolute Mehrheit nicht zustande, wird mit den beiden Kandidaten rnit den

28 Art. 152 Abs. 4: ,,Vor Ablauf von zehn Jahren nach der Ver-offentlichung der nach Eintritt in die Begrtindetheitsprtifung ab-weisenden Entscheidung im Amtsblatt darf ein emeuter Antrag rnit der Behauptung der Verfassungswidrigkeit derselben Vor-schrift nicht gestellt werden."

29 GemaB Gesetz Nr. 2949 vom 10.11.1983 tiber die Grtindung und Verfahrensweise des Ttirkischen Verfassungsgerichts (§ 16 ff.) werden dem Bedarf des Gerichts entsprechend eine ausreichende Zahl von Berichterstattem beschliftigt. Die Berichterstatter mils-sen rnindestens tiber fiinf J ahre Berufserfahrung verftigen. Richter und Staatsanwalte gemaB Gesetz Nr. 2802, Prtifer des Rechnungs-hofes sowie Mitglieder aus den Lehrkorpem der Hochschulen (aus dem Bereich der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften oder Po-litikwissenschaft) werden auf ihren Antrag mit der Genehrnigung des Gerichtsprasidenten von ihrer eigenen Institution auf diese Stelle berufen.

Die Berichterstatter erstellen bei samtlichen Antragen beim Gerich! (abstrakte und konkrete Normkontrolle, Parteiverbotsver-fahren sowie die finanzielle Uberprtifung von politischen Partei-en) den ersten Bericht und legen ihn den Mitgliedem des Gerichts vor. Uber die Zuteilung von Akten an die Berichterstatter ent-scheidet der Gerichtsprasident. Die Berichterstatter nehmen an der ersten Sitzung des Gerichts teil und erlautem die fur die Akte wichtigen Aspekte. Auch der Entwurf der Entscheidung wird von dem fur die Akte zustandigen Berichterstatter angefer-tigt und dem Gerichtsprasidenten bzw. dem Vize-Prasidenten oder dem rnit dem Verfassen der Entscheidung beauftragten Mit-glied vorgelegt. Sornit kann festgehalten werden, dass die Bericht-erstatter am Ttirkischen Verfassungsgericht eine bedeutende Funktion inne haben. Da ihre Berichte nicht veroffentlicht wer-den, kann jedoch der Einfluss ihrer Vorarbeit auf die Entscheidun-gen des Gerichts nicht ermittelt werden.

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EuGRZ 2010/Seite 692 -Aufslitze - Giiztepe

meisten Stimmen eine dritte Abstimmung durchgefilhrt; der Kandidat, der in der dritten Abstimmung die meisten Stimmen erhalt, ist als Mitglied des Verfassungsgerichts ge-wahlt. Fiir die Wahl zum Verfassungsgericht ist demnach kein parteiiibergreifender Konsens im Parlament notig. Die Mehrheitspartei30 kann mit einfacher Mehrheit spates-tens im dritten Wahlgang bestimmen, wer zum Verfas-sungsgericht berufen wird. Aus diesem Grunde wurde vor dem Referendum von vielen Seiten die Befilrchtung zum Ausdruck gebracht, dass die parlamentarische Mehrheit, sprich die Exekutive, das Verfassungsgericht mit gleichge-sinnten, parteiischen Richtem filllen und somit den Sinn der Verfassungsgerichtsbarkeit entleeren wiirde.

Auch das Spektrum der dem Parlament zur Wahl ste-henden Kandidaten wurde mit Skepsis aufgenommen. Zwei von drei Mitgliedem sollen aus den Reihen des Rechnungshofs und ein Mitglied aus den Reihen der Rechtsanwalte stammen. Angesichts der Tatsache, dass die Mitglieder des Rechnungshofes vom Parlament ge-wahlt werden, entpuppt sich der Wahlmodus als geschlos-sener Zirkel, der immer wieder in der einfachen Mehrheit des Parlaments miindet. Die Bekanntgabe dreier Kandida-ten filr das Mitglied aus der Gruppe der Rechtsanwalte provoziert wiederum ein Missverhaltnis zwischen den An-waltskammem. Nach der neuen Regelung werden die drei zur Wahl stehenden Kandidaten durch die Stimmen der Vorsitzenden der Anwaltskammem bestimmt. Zurzeit gibt es in der Tiirkei achtundsiebzig Rechtsanwaltskam-mem, deren Mitgliederzahlen stark variieren. Wahrend in Istanbul 24.989, in Ankara 9.437 Rechtsanwalte durch die jeweilige Rechtsanwaltskammer reprasentiert werden, be-tragt die Zahl der Rechtsanwalte in Bitlis lediglich 38 und in Erzincan nur 91. 31 Dadurch erhalten die Vorsitzenden von kleinen Rechtsanwaltskammern ein ungleich hoheres Gewicht bei der Bestimmung der Kandidaten. Die Opposi-tion forderte, die Bestimmung der Kandidatenliste aus den Reihen der Rechtsanwalte der Union der Tiirkischen Rechtsanwaltskammern zu iiberlassen. Dies wurde von der Regierung abgelehnt.

GemaB dem Ubergangsartikel 18 wurden dem Par-lament nach dem Inkrafttreten der Verfassungsanderungen von den Rechtsanwaltskammern drei Kandidaten zur Wahl vorgeschlagen. In der Abstimmung am 13. Oktober 2010 wurde der Rechtsanwalt von der Anwaltskammer Afyon-karahisar32 Celal Mi.imtaz Akmc1 im zweiten Wahlgang mit 290 Stimmen zum Verfassungsgericht gewahlt. 33 Ange-sichts der Tatsache, dass die Regierungspartei AKP im Parlament iiber 336 Sitze verfiigt, kann festgehalten wer-den, dass die Wahl zum Verfassungsgericht ausschlieBlich mit den Stimmen einer Partei vollzogen wurde.

ii. Amtszeit und Alter der Mitglieder

Nach der alten Regelung mussten die Mitglieder des Verfassungsgerichts das vierzigste Lebensjahr vollendet haben (Art. 146) und traten mit Vollendung des filnfund-sechzigsten Lebensjahres in den Ruhestand (Art. 147). Nach dieser Regelung konnte also ein Verfassungsrichter faktisch filnfundzwanzig J ahre an den Entscheidungen des Verfassungsgerichts mitwirken. 34 Mit der neuen Regelung wird die Amtszeit der Verfassungsrichter auf zwolf Jahre begrenzt. Eine Wiederwahl ist nicht moglich. In der Be-griindung des verfassungsandernden Gesetzes heiBt es, dass mit dieser begrenzten Amtszeit die Anpassungsfahig-keit des Gerichts an den gesellschaftlichen Wandel be-zweckt wird. Auf der anderen Seite ermogliche dieser Zeitraum den Richtern, sich den Erfordernissen des Ge-richts anzupassen und die eigene berufliche Erfahrung in die Arbeit am Gericht einzubringen.

Mit der neuen Regelung wird auch das Mindestalter filr die Berufung an das Verfassungsgericht angehoben. Dem-nach mi.issen die Richter das fi.infundvierzigste Lebensjahr

vollendet haben. Doch diese Anhebung des Mindestalters wurde wahrend der Kandidatenauswahl aus den Reihen des Rechnungshofes angezweifelt und trotz der Tatsache, dass sich die Meinung der Regierungspartei faktisch durch-gesetzt hat, bleibt es abzuwarten, wie sich die akademische Diskussion entfalten wird. GemaB dem Obergangsartikel 18 musste dem Parlament innerhalb von dreiBig Tagen eine Liste mit drei Kandidaten aus den Reihen des Rech-nungshofes vorgelegt werden. Der Rechnungshof legte dem Parlament zwar eine Liste mit drei Namen vor, jedoch hatte einer der Kandidaten das filnfundvierzigste Jahr nicht vollendet. Die Diskussion iiber das erforderliche Mindestalter folgte aber erst auf den Eklat am Wahltag im Parlament am 6. Oktober 2010. An dem Wahltag wurde aus den Reihen der Oppositionsparteien kritisiert, dass vor der Wahl kein Lebenslauf der Kandidaten verteilt wurde, sodass keiner der Abgeordneten wiisste, fiir wen und wa-rum sie abstimmen wiirden. Daher stellten sie beim Prasi-dium des Parlaments den Antrag, den Wahlgang bis zur Vorlage der erforderlichen Informationen iiber die Kan-didaten zu verschieben. Dieser Antrag wurde vom Prasi-dium abgelehnt. Daraufhin erfolgte der erste Wahlgang filr drei Kandidaten und keiner konnte die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit erzielen. Im zweiten Wahlgang er-zielte ein Kandidat 263 Stimmen und die beiden anderen jeweils eine Stimme. Daraufhin kam es zum zweiten Dis-kussionspunkt iiber den Modus des dritten Wahlganges, da nach Art. 146 Abs. 1 im dritten Wahlgang die beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen im vorherigen Wahl-gang zur Wahl stehen sollten. Der stellvertretende Par-Iamentsprasident entschied daraufhin, den zweiten Wahl-gang zu wiederholen. Die Oppositionsparteien protestier-ten heftig gegen diesen Beschluss, da die Losung keinerlei verfassungsrechtliche Grundlage hatte, und zuerst i.iber das verfahrensrechtliche Problem diskutiert und ein Konsens gefunden werden miisste. Die Vorschlage der Oppositions-parteien, dem Prasidium einen Tag Zeit zu geben, um mogliche Losungsvorschlage auszuarbeiten und dem Ple-num zur Abstimmung vorzulegen oder den zweiten Wahl-gang nur filr zwei Kandidaten mit der gleichen Stimmen-zahl zu wiederholen, wurde vom stellvertretenden Par-lamentsprasidenten abgelehnt und der zweite Wahlgang filr alle drei Kandidaten wiederholt. Die Abstimmung er-folgte in Abwesenheit der Abgeordneten der Oppositions-partei CHP, da sie nach der Ablehnung ihrer Antrage den Plenarsaal verlassen hatten. Nachdem auch in diesem Wahlgang keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen konnte, wurde im dritten Wahlgang Hicabi Dursun mit 256 Stimmen zum Verfas-sungsgericht gewahlt. 35

Ein weiterer Diskussionspunkt war das Mindestalter der Kandidaten aus den Reihen des Rechnungshofes. In der alten Fassung von Art. 146 wurde das Mindestalter nicht

30 Siehe fiir die gegenwlirtige Situation in der Tiirkischen Natio-nalversammlung Fn. 3.

31 Stand: 31.12.2009; www.barobirlik.org.tr (Internetseite der Union der Tiirkischen Rechtsanwaltskammer / Tiirkiye Barolar Birligi).

32 Der Anwaltskammer von Afyonkarahisar gehoren 299 Rechtsanwalte an.

33 Bekanntmachung im Amtsblatt vom 15.10.2010 (Entschei-dung der GroBen Nationalversammlung Nr. 976). Im ersten Wahl-gang erhielt Akmc1 242 von 353 abgegebenen Stimmen; erreichte also die Zwei-Drittel-Mehrheit nicht.

34 Der jetzige Prlisident des Verfassungsgerichts Ha~im Kill', wurde z.B. von Ministerprasident Turgut Ozal 1990 im Alter von vierzig Jahren zum Verfassungsrichter ernannt und wird bis zu sei-nem Ruhestand fiinfundzwanzig Jahre im Amt sein.

35 Siehe fiir den Ablauf der Wahlgange und die Diskussionen im Parlament das Sitzungsprotokoll vom 6.10.2010,

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aoztepe - Eine Analyse der Verfassungslinderungen in der Tiirkei 2010 - EuGRZ 2010/Seite 693

in fonn einer allgemeinen Regelung ausfonnuliert, son-dem nur in Absatz 3 in Verbindung mit den Eigenschaften der Mitglieder aus den Lehrkorpem der Hochschulen, den leitenden Beamten und den Rechtsanwiilten erwiihnt. 36 Bei der Anwendung von Art. 146 zwischen 1982-2010 herrschte jedoch ein Konsens dartiber, dass das Mindest-alter von vierzig Jahren fiir alle Mitglieder des Verfas-sungsgerichts gelte. Die neue Fassung von Art. 146 hat denselben strukturellen Aufbau wie die alte. Das Mindest-alter von filnfundvierzig Jahren wird nur filr die oben er-wahnte Personengruppe ausdrilcklich vorgeschrieben. Ei-nen Tag nach der Wahl von Hicabi Dursun am 6. Oktober 2010 als Kandidat aus den Reihen des Rechnungshofes wurde von den Oppositionsparteien festgestellt, dass Dur-sun nicht das filnfundvierzigste Lebensalter erreicht hatte. Daraufhin hat die CHP beim Priisidium des Parlaments ei-nen Antrag zur Annullierung der Wahl gestellt, zugleich eine Nichtigkeitsklage beim Staatsrat gegen die Entschei-dung des Rechnungshofes erhoben, da der Rechnungshof einen Kandidaten aufgestellt hiitte, der die erforderlichen Kriterien nicht erfilllte. 37 Ein weiterer Antrag wurde schlieBlich beim Verfassungsgericht mit der Forderung ein-gereicht, den vom Parlament gewiihlten Kandidaten bis zu einer endgilltigen richterlichen Entscheidung nicht zu ver-eidigen. Dieser Forderung entsprach der Priisident des Verfassungsgerichts nicht und vereidigte die vom Par-lament gewiihlten Personen am 18. Oktober 2010 in einer offentlichen Zeremonie. Nach dem aktuellen Stand scheint es rechtlich unmoglich zu sein, die Wahl des Kandidaten aus den Reihen des Rechnungshofes zu annullieren. Doch es erscheint dringend notwendig zu sein, ilber die Aus-legung von Art. 146 zu diskutieren und zu einem Konsens zu kommen, da ansonsten die Legitimitiit der vom Par-lament und vom Staatspriisidenten zu wiihlenden Verfas-sungsrichter in Frage gestellt werden konnte.

iii. Neue Kompetenzen und Arbeitsweise des Verfassungs-gerichts I Individualbeschwerde

In der neuen Fassung von Art. 148 wird dem Verfas-sungsgericht eine neue Kompetenz zugewiesen. Demnach kann sich jeder nach Erschopfung ordentlicher Rechts-wege an das Verfassungsgericht wenden, um die Verlet-zung seiner in der Verfassung garantierten Grundrechte und -freiheiten, die zugleich in der Europiiischen Konven-tion zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) geschiltzt sind, geltend zu machen. Das Verfah-ren und die Prinzipien der lndividualbeschwerde werden durch Gesetz geregelt. GemiiB dem Obergangsartikel 18 soil das Gesetz spiitestens in zwei Jahren erlassen und In-dividualbeschwerden nach Inkrafttreten des Gesetzes zu-gelassen werden.

Mit dieser Regelung wird der Schutz der Grundrechte und -freiheiten irn tilrkischen Rechtssystem erweitert, <loch der Umfang dieses Schutzes bleibt bis zum Inkrafttreten des Ge-setzes unklar. Erstens konnen nicht alle in der Verfassung ver-ankerten Grundrechte und -freiheiten Gegenstand einer In-dividualbeschwerde sein. Da der Schutzbereich nach Wort-laut des Artikels nur auf die in der EMRK verankerten Grundrechte und -freiheiten beschriinkt ist, fallen die zwi-schen Art. 41 bis Art. 65 aufgeziihlten sozialen Grundrechte und -freiheiten streng genommen nicht in den Schutzbereich dieser Regelung. Angesichts der Rechtsprechung des Euro-piiischen Gerichtshofs filr Menschenrechte (EGMR) bleibt auch zu kliiren, ob und inwieweit die stiindige Rechtspre-chung des EGMR bzgl. der engen Verbindung der negativen Grundrechte mit den sozialen Rechten bei der Festlegung der verfassungsrechtlichen Grundlage von Individualbeschwer-den zu berilcksichtigen ist. 38 Wenngleich der Wortlaut nur die EMRK erwiihnt, ist davon auszugehen, <lass auch die Von der Tilrkei ratifizierten Protokolle zur EMRK in den Schutzbereich der lndividualbeschwerde einbezogen werden.

Zweitens wurde die Individualbeschwerde als ein auBer-ordentlicher Rechtsweg eingerichtet, der erst nach Er-schopfung aller ordentlichen Rechtswege im innerstaatli-chen Bereich moglich sein soll. In der Begrilndung des ver-fassungsiindemden Gesetzes wird als Grund die Vielzahl der Beschwerden gegen die Tilrkei beim EGMR angege-ben. Des Weiteren erhofft man sich, gegen die Verletzun-gen von Grundrechte und -freiheiten innerhalb des natio-nalen Rechtssystems vorzugehen und den Bilrgem den Weg nach StraBburg zu ersparen. Daher kommt der ge-setzlichen Ausgestaltung des Verfahrens auf Individual-beschwerde eine groBe Bedeutung zu, wobei auch bei an-deren Verfahrensgesetzen Anderungen vorgenommen werden sollten, um die Oberpriifungskriterien der letzt-instanzlichen Gerichte im Hinblick auf die Grundrechte und -freiheiten zu konkretisieren. 39 Es bleibt also abzuwar-ten, ob die Individualbeschwerde tatsiichlich die erhoffte Wirkung in Bezug auf den Weg zum Europiiischen Ge-richtshof fiir Menschenrechte haben wird.

Mit der Verfassungsiinderung wurde zudem eine bisher geltende Liicke in Art. 148 geschlossen. GemiiB diesem Artikel fiihrt das Verfassungsgericht als sogenannter Staatsgerichtshof Verfahren gegen bestimmte Amtstriiger im Falle von im Zusammenhang mit dem Amt begangenen Straftaten <lurch. Bis zur Verfassungsiinderung wurden i.S. dieses Artikels folgende Amtspersonen geziiltlt: der Priisident der Republik, die Mitglieder des Ministerrats, die Priisidenten und Mitglieder des Verfassungsgerichts, des Kassationshofs, des Staatsrats, des Militiirkassations-hofs und des Hohen MilitiirverwaltungsgerichtsMilitiirkassations-hofs, die Generalstaatsanwiilte, der stellvertretende Generalstaats-anwalt der Republik, die Priisidenten und Mitglieder des Hohen Rats der Richter und Staatsanwiilte und des Rech-nungshofs. Nun fallen auch der Priisident des Parlaments, der Generalstabchef, die Kommandeure der Land-, Luft-und Seestreitkriifte sowie der Oberkommandeur der Gen-dannerie unter den genannten Voraussetzungen in den Kompetenzbereich des Staatsgerichtshofes. Mit der neuen Regelung kann gegen die Entscheidungen des Staats-gerichtshofes eine Beschwerde eingelegt werden, wobei iiber diese Beschwerde das gleiche Gremium zu entschei-den hat und danach kein weiterer Rechtsweg mehr vor-gesehen ist.

Entsprechend diesen neuen Kompetenzen wurde auch die Struktur und Arbeitsweise des Verfassungsgerichts ge-iindert. Das Verfassungsgericht wird in zwei Kammem und als Plenum arbeiten. Uber Individualbeschwerden wird in

36 Art. 146 Abs. 3 (alte Fassung): ,,Die Mitglieder der Lehrkor-per der Hochschulanstalten, die leitenden Bearnten und die Rechtsanwlilte miissen, urn zurn ordentlichen oder Ersatzrnitglied des Verfassungsgerichts gewlihlt zu werden, das vierzigste Lebens-jahr vollendet, eine Hochschulausbildung absolviert oder an den Hochschulanstalten mindestens fiinfzehn Jahre das Arnt eines Mitglieds des Lehrkorpers versehen oder irn offentlichen Dienst rnindestens fiinfzehn Jahre tatslichlich gearbeitet haben oder rnin-destens fiinfzehn Jahre als Rechtsanwalt tlitig gewesen sein."

37 Vgl. die Berichterstattung der Tageszeitungen vorn 8.-10. Ok-tober 2010.

38 Siehe fiir die stlindige Rechtsprechung des EGMR Feld-brugge ./. Niederlande, Urt. v. 29.5.1986, EGMR-E 3, 138, Ziff. 37; Airey ./. Irland, Urt. v. 9.10.1979, EGMR-E 1, 414, Ziff. 24 and 26; Sidabras und Dziautas ./. Litauen (Nr. 55480/00 u.a.), Urt. v. 27.7.2004, Ziff. 47; N . ./. Vereinigtes Konigreich (GroBe Karnrner-GK) (Nr. 26565/05), Urt. v. 27.5.2008, Ziff. 44; Salesi ./. Italien (Nr. 13023/87), Urt. v. 26.2.1993; Guerra u.a . ./. ltalien (GK), Urt. v. 19.2.1998, Ziff. 58, EuGRZ 1999, 188.

39 Siehe zur Erschopfung des Rechtswegs in Bezug auf die Indi-vidualbeschwerde Theodor Schilling, Internationaler

Menschen-rechtsschutz, 2. Aufl., Mohr Siebeck 2010, Tiibingen, S. 301, Rn. 698; Christoph Grabenwarter, Europliische

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