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Başlık: ROSSEAU'NUN DEVLET ÖĞRETİSİNİN TARİHSELLİĞİ VE GÜNCELLİĞİYazar(lar):SCHEFOLD, Dian;AYİTER, NurşenCilt: 31 Sayı: 1 DOI: 10.1501/Hukfak_0000000954 Yayın Tarihi: 1974 PDF

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VON ROUSSEAUS STAATSLEHRE

von Dr. iur. Dian SCHEFOLD Professor an der Freien Universitât Berlin — G l i e d e r u n g —

Einleitung

I. Die Standpunkte der Rousseau-Interpretation. 1. Begründung des demokratischen Staates. 2. Begründung der totalitaren Demokratie. 3. Begründung der Status-quo-Erhaltung. II. Historisch-systematische Interpretation.

1. Das Sozialmodell des gering entıvickelten Kleinstaats. 2. Gesetzgebung als Sittenverstârkung.

3. Die Gefâhrdung von Gleichheit und Vergesellschaftung in der Geschichte.

4. Folgerungen.

a) Historischer Charakter des Modells der Republik. b) Rousseaus Staatslehre als Argumentation des

Absolu-tismus.

c) Rousseau als theoretischer Vollender des Absolutismus. III. Wirkungsgeschichtlich-aktuelle Interpretation.

1. Notwendigkeit der Betrachtung auch der Wirkungsgeschichte. 2. Rousseau im Kontext der Freiheitslehre.

3. Das gebildete Individuum als Bürger.

4. Die Aufgabe der Fortbildung der Staatslehre in demokratie-theoretischer und sozialpolitischer Sicht.

im 7. Kapital des II. Buchs des Contrat Social schildert Jean-Jacqu.es Rousseau den Gesetzgeber als den, der zu unternehmen wagt, «d'instituer un peuple». Ein Volk einzurichten, das bedeutet, ihm nicht nur Gesetze, sondern Institutionen zu geben, auch wohl, nach dem Doppelsinn des fransösischen Wortstamms, es zu

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lehren. Deı Gesetzgeber «doit se sentir en etat de changer, pour

ainsi dire, la nature humaine, de transformer chaque individu, qui par lui-meme est un tout parfait et sblitaire, en partie d'un plus grand tout dont cet individu reçoive en quelque sorte sa vie et son etre, d'alterer la constitution de l'homme pour la renforcer; de substituer une existence partielle et morale a l'existence physique et independante que nous avons reçue de la nature». Der Vorgang hat nichts mit der ordentlichen Funktionsstruktur eines konstitu-ierten Status zu tun und findet in seine Verfassung keinen Ein-gang, wie Rousseau sagt Die Person des Gesetzgebers ist einmalig, sie bedarf einer überragenden Einsicht, die aile Leidenschaften der Menschen kennt, ohne sie zu teilen (CS II 7, Abs. 1).

Mag diese Charakterisierung mythisch erscheinen, an Platons Staatsgründungstheorien und an Gesetzgeber vom Schlag eines

Lykurg odcr Calvin erinnern, die Rousseau ervvâhnt - da(3 zur

poli-tischen und sozialen Formung eines Volkes eine schöpferische Ge-staltung gehört, \vird aus der Darstellung so überzeugend deutlich wie aus vvenigen anderen. Ich erinnere mich noch gut, wie ich jene Stelle als Gymnasiast zum ersten Mal las. Mein erster Gedanke war der an das Beispiel eines Gesetzgebers, der in diesem Jahr-hunderl die von Rousseau gesehilderte Aufgabe in Angriff genom-men hat. Ich meine Atatürk, den Neubegründer der Türkischen Republik. Und deshalb mag es angebracht sein, da(3 ich Ihnen heute cinige Uberlegungen zur Geschichtlichkeit und Aktualitât von Rousseau s Staatslehre vortrage.

1. Wenn ich von diesem dem hiesigen Ort entspreehenden Ausgargspımkt Rousseau's Gedankengânge einzuordnen suche, so seheint ihre Aktualitât gerade nach dem zeitbedingten Ausgangs-punk leicht einsehbar. Der Gesetzgeber ist «der Mechaniker, der die Maschine erfindet» (CS II 7, Abs. 2), der Konstrukteur des Staates als teehniseher von der aufklârerischen Wissenschaft neu verstandener, rational erklarter Organisation. Die Organisatm» beschrânkt sich nicht auf Âufterlichkeiten. Sie bedient sich der Gesetzgebung und des Geists der Gesetze in Montesquieus Sinn, der Soziologie, der Geschichte, der Padagogik als Hilfsvvissenschaf-ten. Eine ganzheitliche Sicht mensehlicher Erkenntnis soll hel-fen, die Aufgaben einer aufgeklârten Zeit zu bevvâltigen. Die

Encyclopedîe, an der Rousseau auf Anregung Diderots

mitarbei-tet und für die er den Artikel über die Politische Ökonomie ver-laPte, eröffnet als Methode der ganzheitlichen Sicht aller menseh-lichen "VVirkungsfelder neue Möglichkeiten politiseher Gestaltung.

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Radikale Neukonstruktionen werden damit möglich : Von

Rous-seaus Gesetzgeber führt eine direkte Linie zur Lehre vom pouvoir constituant, der verfassungsgebenden Gewalt. Auch sie findet

kei-nen Eingang in die Staatsverfassung, sondern steht vor und über ihr. Auch sie unternimmt den radikalen Neubeginn. Verfassung ist für die Theoretiker der amerikanischen und der französischen Revolution wie auch für ihre Nachfahren in der heutigen Verfas-sungslehre nicht eine blo(ie Technik: keine Reformkosmetik, son-dern grundsatzliche Bcsinnung auf das Wesen und die Notvven-digke't der Neugestaltung des Staates. Es ist kein Zufall, daP et-wa Rudolf Smend seine Integrationslehre unter der Begriffspaa-rung «Verfassung und Verfassungsrecht» entvvickelt und dabei das Verfassungsrecht als Teil einer grö@eren Aufgabe eingeordnet hat. Und es ist ebensowenig kein Zufall, wenn gegenwârtige Ver-suche der Varfassungserneuerung etwa in Deutschland wie in der Schvveiz daran kranken, dap Wille, Bereitschaft und Konzept für einen v.irklichen politischen Neubeginn fehlen.

Um eben diesen Neubeginn ging es, versteht man Rousseau im envâhnten Sinn, im 18. Jahrhundert und speziell in der fran-zösischen Revolution. Den entsprechenden Durchbruch suchte

Atatürk: Die Sprengung der Ketten der Tyrannis und Unfreiheit,

die Venvirklichung des auf der Souverânitât des Volkes beruhen-den Staates, aber nicht nur als formale, âuPerliche Regelung, son-dern duich das Mittel der Verânderung des Menschen, damit er in der Lage ist, an der obersten Gewalt des Staates teilzuhaben, dami: er zum verantwortlichen Bürger wird. Deshalb betont

Rous-seau die vollstândige Einbeziehung des Menschen in den Staat,

den AusschluP aller Übertragung, Teilung, Fehlbarkeit des Ge-meinvvillens, der souverânen Gewalt des Volkes. So gesehen, erseheint der Contrat Social als vorbildliche Begründung der mo-dernen, rationalen, nationalen Demokratie.

2. Aber was ist der Preis, was der Inhalt dieser Freiheit? Die Eimvânde sind bekannt: Bedeutet die «alienation totale de chaque associe avec tous ses droits a toute la communaute»

(CS I 6 Abs. 6) nicht gerade den Verlust der Freiheit, die gnad-lose Hingabe an den Staat? Öffnet die behauptete Unfehlbarkeit der volontâ generale nicht der Tyrannis der Mehrheit, und, im praktîsehen Ergebnis, auch der behaupteten Mehrheit, Tür und Tor? Macht die Unübertragbarkeit der volonte generale, die Ableh-nung der parlamentarischen Reprâsentation, nicht das politisehe System funktionsunfâhig, mit dem Ergebnis, daP die Macht einer

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nicht mehr wirksam kontrollierten Führungsgruppe zufâllt? Und

wird diese Gefahr nicht durch die Venverfung der Gewaltentren-nung im Contrat Social verschârft?

Rousseau scheint İn der Tat aile fundamentalen Prinzipien

der modernen freiheitlichen Demokratie verraten zu haben. Er eı w*eist sich, ordnet man die Einwânde in die Geschichte der po-litischen Ideen ein, als getreuer Schüler von Thomas Hobbes: Beider Ziel ist, eine verbindliche Autoritât, die Souverânitât im politischen System zu sichern und deren Trâger gegenüber ailen Zweifeln an der Richtigkeit der getroffenen Entscheidung, gegen­ über ailen Kontrollen, die die Durchsetzung der souverânen Ge-walt in Frage stellen können, abzuschirmen. Für Hobbes wie für

Rousseau ist der Staat eine Konstruktion, ein "corps moral", ein

von Menschen erdachtar "sterblicher Gott": sterblich, weil Pro-dukt mcnschlichen Geistes. Aber innerhalb des Bereichs, der men-schlicher Gestaltung zuganlich ist, mu3 er als mit sich selbst in eins, unteilbar und unfehlbar, eben als Autoritât anerkannt wer-den, die jeden Rückgriff auf eine vor öder au$erhalb des geschlos-senen Systems denkbare Wahrheit ausschliePt. Nur radikalisiert

Rousseau die Hobbes'sche Position noch weiter. Trâger der

Herr-schaft, der sich unterzuordnen aile Bürger einig sind, ist nicht mehr der von den einzelnen abstrahierte absolute Monarch, son-dern die Gesamtheit aller Bürger in ihrer politischen Existenz als Organ zum Ausdruck der volonte generale. Idealistisch gesehen, findet damit die Unbegrenztheit des Gemeinvvillens eine zusâtz-liche, ihre Absolutheit legitimierende Grundlage. Realistisch ge­ sehen erhebt sich die Frage, ob der so legitimierte tatsâchliche Vollstrecker des Gemeinvvillens nicht zu einem noch willkürliche-ren Tyı annen werden mu3 als der hobbistische Monarch.

Diese Parallelitât von Leviathan und Contrat Social ist erst in neueren Forschungen, vor allem Robert Derathes, dann von

Pe-ter Cotnelius Mayer-Tasch, bis in die Einzelheiten verfolgt

wor-den. Die İhı zugrundeliegenden Eimvânde aber begleiten Rousseaus Wirkungsgeschichte. Sie setzt ein mit dem Verbot der Schriften, vor allem des Emile, unmittelbar nach dem Erscheinen, und mit der scharfen Distanzierung der tonangebenden amerikanischen Verfassungsvâter wie der ihnen folgenden Verfassungstradition von eineı so verstandenen Demokratie. Dem Modeli des Contrat

Social vverden dann die schlimmen Folgen des gouvernement d'assemble, der Versammlungsregierung des Konvents in der

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Verur-teilung des Rousseauschen Konzepts der Volkssouverânitat bes-timmt die ganze liberale Staatstheorie des 19. Jahrhunderts, für die die Begriffspaarung «Politik des Absolutismus und des Radi-kalismus», die Georg Jellimle beschrieb, gleichsetzte und gleicher-ma^en geijîelte, beispielhaft ist. Ja die neuere Ideengeschichte hat den Gedanken auf Grund der Erfahrungen des totalen Staats le-ninist.scher wie fasehistiseher Prâgung verallgemeinert. Aus in der Tat zum Teil auf Rousseau zurückführbaren Elementen der Volks-demokratıe einerseits, gevvissen Berufungen auf Rousseau in der faschistıschen Literatür andererseits wurde dem freiheitlichen Staat eiri Sammelbegriff der «totalitâren Demokratie» gegenübergestellt. der im «politisehen Messianismus» so Jakob Talmon -eines sich als unmittelbar, unfehlbar und antipluralistisch geben­ den, in Wirklichkeit aber eine Führungsgruppe legitimierenden, blop «hypothetischen» Volkswillens — so Ernst Fraenkel — aile Garanlien der Freiheit zugrunde richte.

3. Die Verteufelung Rousseaus als Revolutionâr und Weg-bereiter des Totalitarismus ist freilich nur als Antithese zur zunâchst dargestellten These, die im Contrat Social das Vorbild der mo-dernen Demokratie sehen will, verstândlich. These und Antithese sind beliebte Glieder in den Argumentationsketten der Dogmen-geschichte des modernen Staates. Aber halten sie dem Befund der Texte, dem historisehen Rousseau stand? Schon die Wirkungs-geschichte scheint dem zu widersprechen. Uberprüft man sie im einzelnen, wie es in neuerer Zeit vor allem Joan McDonald getan hat, so zeigt sich, daP der Contrat Social vor 1789 wenig gelesen und auch in den Jahren der französichen Revolution weit hâufi-ger nur1 oberflâchlich zitiert als vvirklich detaillierten

Erörterun-gen zugrunde gelegt wurde. Gewif3 hat es in der Revolutionszeit einen Rousseau-Kult gegeben. Aber er galt vveit weniger dem Autor des Contrat Social, als dem Literaten und Autor der Ro-mane, vor allem des Emile und der Nouvelle Helöise, die ein dem revolutionâren Publikum gemâfies Lebensgefühî verkündeten.

Dagegen wirft die Lektüre der politisehen Texte Zweifel an der These vom revolutionür-demokratischen wie vom absolutisehen

Rousseau auf. Erinnert nicht die im Contrat Social (III 6) als

Variante legitimer Herrschaft gesehilderte Monarchie an das Frankreich des 18. Jahrhunderts, vvahrend die Demokratie als utopisehe Staatsform bezeichnet wird (III 4)? Und bleiben die spontanen Aktionsmöglichkeiten des souverânen Volkes nicht, bei aller begrifflichen Schrankenlosigkeit, in engen faktisehen

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Grenzen? Von Yolksveısammlungen etwa ist nur zu bestimmten

Terminen öder auf Einberufung durch die Magistraten die Rede (III 13) — vvâhrend das englische Vorbild ein Selbstversammlungs-recht nahegelegt hâtte. Gesetze dürfen nur allgemeinen Inhalts, Erfordernissen des Gemeinwohls entsprechend sein (II 2, 6), so da(3 für Willkürakte des Souverâns nur dann Raum zu bleiben scheint wenn er die Grenzen der volonte generale bewusst über-schreitet. Auch wenn der Contrat Social das institutionell nicht ausschliesst, lâfk Rousseau doch keinen Zweifel daran, da3 er die Gesetzgebung als feierlichen, sekenen Akt versteht. Den eingangs skizzierten Typ des Gesetzgebers scheint also doch manches vom Schöpfer der neuzeitlichen Kodifikationen, vom Techniker auf-klârerischer Rechtsetzung zu unterscheiden. Die Frage spitzt sich zu, betrachtet man das im Anschlu3 an das Kapitel über den Ge setzgeber entwickelte konkrete Staatsmodell des Contrat Social

im einzelnen, daP vor allem in der früheren, erst 1882 entdeckten

Fassung des Manuskripts zusâtzliche Charakteristika enthâlt: hier werden prâzise soziale und geographische Voraussetzungen für die Gründung und Existenz eines freien Staates als unabdingbar aufgezeigt. Keine Rede von revolutionârer Neugestaltung, sondern, im Gegenteil, Anknüpfung an historische Besonderheiten. in

Rousseau's konkreten politischen Schriften, vor allem der den Discours sur l'inegalite einleitenden Widmung an Genf, dem Pro-jet de constitution pour la Corse und den Considerations sur le gouveruement de Pologne, fâllt der Respekt vor dem Bestehenden

noch mehr auf. Es scheint Rousseau's vorrangiges Bestreben zu sein, stabile, an die historische Eigenart der Staaten anknüpfen-de Verfassungsformen vorzuschlagen, die von aufklârerischen

Reipbrettkonstruktionen ebenso weit entfernt sind wie von tota-litârer Tyrannis der Mehrheit. im Gegenteil ist hier von stândischer Gleiderung und Reprâsentation bei der Rechtsetzung die Re­ de, und ganz besonders von politischen und sozialen Strukturen, die Oorigkeit und Untertanen harmonisch miteinander leben las-sen.

II

1. Schon diese Beobachtungen zeigen, da3 das Bild des auf­ klârerischen Revolutionars wie das des totalitâren Demokraten eine Verkür/ung, wenn nicht ein Zerrbild Rousseau's ist. Der Contrat

Social gehört in einen konkreten geschichtlichen Kontext, und

sein Verfasser hat nie unterlassen, das zu betonen. Zunâchst ist seine politische Theorie niemals abstrakte Konstruktion

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bestimm-ter politischer Globalrezepte, sieht man von unbedeutenden, vom Autor selbest ironisierten Zahlenspielen etwa über die Personen-zahl der Regierenden (CS III 1) öder die Staatsgröpe (Conside-rations sur le gouvernement de Pologne eh. 5) und von histo-risehen Hypothesen ab, auf die noch zurückzukommen ist. Kein seharferer Gegensatz ist denkbar: Auf der einen Seite steht die Massenproduktion an Verfassungen bestimmter Typen erst in der französischen Revolution, dann im liberalen Konstitutionalis-mus des 19. Jahrhunderts und wiederum in den demokratiseh-konstitutionellen Bewegungen seit dem 1. "VVeltkrieg; auf der an-deren die behutsamen, auf der Analyse der gesellschaftlichen Verhâltmisse bestimmter Völker aufbauenden Verfassunesvorschlâ-ge vieler Theoretiker des 18. Jahrhunderts. Die Aufklârung war eben nicht nur die Epoche eines enzyklopâdisch - konstruktiven Denkens. Sie legte zugleich für die soziahvissenschaftliche Empi-rie, vor allem die Ethnologie und Soziologie, den Grund. GevvifS gehört unter den Autoren dieser methodisehen Richtung

Montes-quieu an die erste Stelle. Vergleicht man aber Rousseau's Lehre

von der Staatsbildung zum einen mit Montesquieu, zum andern mit der durch die amerikanisehe und die französische Revolution initiierten Verfassungstechnik, so dürfte sie dem Esprit des Lois naher stehen als den spateren Verfassungsmodellen.

Freilich mit einer Einschrânkung: Rousseau verzichtet auf die Darstellung des Geists der Gesetze in weltweitem, enzyklopâ-disehem Rahmen. Er beschrânkt sich darauf, Völker einer be-stimmten historisehen Stufe und politisehen Lage zu untersuchen, zum Gtgenstand seiner Darstellung und seiner Vorschlâge zu ma-chen. Das Volk, von dem der Contrat Social (II 8-10) spricht, mup «jung» sein; es darf noch keine festgefügten Sitten haben. Die vvirtsehaftliche Lage der Bürger darf nicht zu ungleich sein; kei-ner darr einen anderen kaufen können öder, umgekehrt, gezvvun-gen sein, sich zu verkaufen. Das Gebiet des Volkes mu(3 so klein sein, da{3 eine enge Beziehung der Bürger untereinander besteht, aber doch so grop, da(} es sich gegen âufiere Feinde behaupten kann. Die Landesproduktion mu(3 so reichhaltig sein, da|3 sie zur Ernâhrung genügt und nicht zu Eroberungskriegen nötigt, aber darf keinen ÜberfluP erzeugen, durch den der Beuteneid der Nach-barn gereizt würde. An was für Völker zu denkeE ist, wird aus den Schriften immer wieder deutlich. Offenkundig ist zunâchst der Rückgriff auf die antike Polis und auf das republikanische Rom, vvie ihn vorallem Bertrand de Jouvenel hervorgehoben hat und der

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in der Anknüpfung an die Sozialmodelle der platonischen und aristoteüschen Staatstheorie zum Ausdruck kommt. Aus der neu-eren Geschichte vverden stândig die befreiten Niederlande, Genf, vvohl auch lândliche Gebiete der Schweiz genannt. Für die Ge-genvvart des 18. Jahrhunderts kommt, einer Zeitströmung ent-sprechend, RuPland zu Sprache; aber mit Zurückhaltung, da dört zu früh künstlich versucht worden sei, die Barbarei durch Gewalt zu überwinden. Positiver ist Rousseau's Haltung zu Korsika und zu Poleu, den beiden Staaten, für die er serbst ausführliche Ent-vvürfe iür die künftige Gestaltung des Regierungssystems vorgelegt hat. Vor ailem aber fehlt, und das mu3 im Hinblick auf die Wir-kungsgeschichte auffallen, neben den anderen europâischen Gross-mâchten des 18. Jahrhunderts gerade auch Frankreich. Nur in gele-gentlichen Beispielen ist davon die Rede, aber weder als Vorbild, noch als Gegenstand von Verfassungsneuschöpfungen kommen die GroPstaaten der damaligen Zeit in Betracht.

2. ist damit der Kreis der Völker abgesteckt, die Rousseau im Hinblick auf seine «principes du droit politique», wie der Un-tertitel des Contrat Social lautet, interessieren, so gewinnen nach dieser Yorauswahl auch die Gesetzgebung und der Gesetzgeber prâzisere Konturen. Zunâchst in negativer Abgrenzung: die Gesetz-gebungsprinzipien sind keine Rezepte für die im 18. Jahrhundert vvichtigen und mâchtigen Staaten, speziell nicht für Frankreich. Schon von dieser Feststellung her lâ$t sich die Deutung Rousseau's als eines Wegbereiters der fransösischen Revolution nicht halten.

Aber auch Gegenstand und Inhalt der Gesetzgebung sind nur sehr bedingt als revolutionâre Programme im Zusammenhag der aufklâreı ischen politischen Programmatik zu deuten. Freilich, ver-gegenwârtigen wir uns nochmals das eingangs ervvâhnte Zitat, so ist von «Verânderung der menschlichen Natur» die Rede. Das Individuum soll in den Staat eingepafk, seine Individualitât zu einem «moi commun» kollektiviert vverden (CS I 6). Erklârte Ab-sicht ist in der Tat eine «alienation totale», eine Bevvufîtseinsbear-beitung des Menschen, der sich keine individuellen Reserven ent-gegenstellen dürfen. Hier liegt der Eimvand der Vorbildlichkeit für totalitâre Menschenmanipulationen nahe. Er erhâlt zusâtzliche Nahrung, nimmt man die Mittel hinzu, die Rousseau in Betracht zieht. Die Lehre von der politischen Erziehung, vorgeformt schon im Enzyklopâdieartikel über die iSconomie politique und ausge-führt in den politischen Auftragsschriften, am konkretesten in den

Considerations sur le gouvernement de Pologne, hat das Ziel:

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«diriger tellement leurs opinions et leurs goûts, qu'elles soient pat-riotes par inclination, par passion, par necessite. Un enfant en ouvrant les yeux doit voir la patrie, et jusqu'â la mort ne doit plus voir qu'elle. Tout vrai republicain suça, avec le lait de sa mere, l'amour de sa patrie, c'est-â-dire des lois et de la liberte. Cet anıour fait toute son existence; il ne voit que la patrie, il ne vit que pour elle; sitöt qu'il est seul, il est nul; sitöt qu'il n'a plus de patıie, il n'est plus; et s'il n'est pas mort, il est pis», (eh. 4). Gerade der deutsche Leser wird hier den Gedanken an pâdago-gisehe ideale des Nationalsozialismus sehvver unterdrücken kön-nen.

Aber die zitierte und âhnliche Stellen stehen in einem ande-ren Zusammenhang. Rousseau's Patriotismus lâpt sich schon nur bedingt als Nationalismus kennzeichnen; denn er güt dem Klein-staat, der antiken Polis, Genf, dem Korsika öder Polen der Gegen-wart. Nicht eine biologisch öder spraehlich geprâgte ethnische Ge-meinsehaft soll im Staat auf Gleichförmigkeit dressiert vverden, sondern eine überschaubare Gruppe, deren konkrete Interessen pa-rallel sind, findet sich auf Grund der Einsicht in die Notwendig-keit der Vergesellschaftung darin im Weg der legalen, freiheitli-ehen Rechtsetzung zusammen, im bewu@ten Verzicht darauf, ent-fernten Provinzen einheitliche Gesetze aufzuzwingen und Glanz in der territurialen Entfaltung zu suchen. Den Polen empfiehlt Rous­

seau folgerichtig, ihr Gebiet zu verkleinern, sich auf die eigentlich

polnischen Gebiete zu besehrânken (Considerations, eh. 5), und stândig, ohne da(3 er zu einer befriedigenden Lösung gelangt, be-schâftigt ihn das Problem, den Staat einerseits so klein zu halten, da@ die Transparenz der gesellschaftlichen Verhâltnisse für die Bürger fühlbar, die Bildung' einer volonte generale möglich ist, und andererseits den Staat nach au(3en so stark zu wissen, da$ er sich âuPerer Feinde erwehren kann.

Einem ahnlichen Ziel dient das Wirtschaftsmodell der Staats-sehriften. Zunüchst: es dient. Schon der Verfasser des Enzyklo-Dâdieaı ükels über die Politische Ökonomie versteht sein Thema nicht als ProzeP zur Erzeugung einer maximalen Kapitalrendite öder eines möglichst starken Wachstums, sondern ordnet das ökonomısche Leitbild von vornherein den Gestaltungsprinzipien des Gemeinwesens unter. Erst reeht tun das die spâteren Staats-sehriften. Daher. soll die Wirtschaftsform die Entvvicklung der Ungleichheit vermeiden und die Bürger, bei möglichst gleich-maPiger Eigentumsverteilung, zu selbstândiger Arbeit als

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Produzen-ten, vor allem in Landwirtschaft und Gewerbe, weniger im Han-del veranlassen. Der Beitrag des einzelnen zur öffentlichen Hand soll aus tatiger Mitarbeit, Naturalabgaben und Diensten an der Gemeinschaft eher als aus Steuern bestehen. Nach au$en soll sich der Staat unabhângig, autark erhalten. Weder Geldgewinne durch Aupenhandel, noch freier internationaler "VVarenaustausch sind zu empfehlen. Beides lenkt von der Konzentration auf das Gemeinwesen ab, ersetzt die Kooperation der Bürger durch Tausch-und Geldeswert. Mag somit Rousseau, âhnlich wie die Merkan-tilisten, an der Förderung einheimischer Produktion interessiert gewesen sein — das Ziel ist nicht gröfkmögliche Wirtschaftsblüte, sondertı die bescheidene Selbstgenügsamkeit des Bürgers im selbst-genügsamen Staat. Mag die Betonung des agrarischen Elements an die Physiokraten erinnern -T- Rousseau will die Produktivkrâfte nicht zum Zweck au$erer Machtentfaltung, sondern zur Befriedi-gung natürlicher Bedürfnisse in der introvertierten Bürgergemein-schaft und nur dazu mobilisieren. Die Gesetzgebung umfa^t die VVirtschaft als Element der Politik. Sie schlie$t damit, ganz im aris-totelischen Sinn, die Chrematistik, die Technik des maximaten Gelderwerbs aus.

Entsprechendes gilt, vor allem, für die Sitten, Überrascht schon im Contrat Social (II 12), wie das Werk des Gesetzgebers mit der Betonung der Grundlage in den Sitten schlie@t, so wird in den praktischen Staatsschriften Bedeutung und Inhalt der moralischen Tradition vollends deutlich. Die Widmung des Discours sur

l'inegalite beschreibt Genf als Republik, in der sich Magistraten

und Bürger vertrauensvoll und ohne Ausnutzung möglicher lega-ler Freirâume auf ihre Sphâren beschrânken, und erklârt die Festle-gung solchen gegenseitigen Respekts durch neue Gesetze für un-möglich. Entsprechend lehnt Rousseau's Brief an d'Alembert dessen Förderung nach einem Theater für Genf ab. Die wahre Republik ist selbst Schauplatz der Persönlichkeitsbildung der Bürger und steht in einer festgefügten ethischen Tradition. Sie soll sie durch Gaukeispiele von Berufsschauspielern mit fremden Problemen nicht in Frage stellen lassen. Nicht positiver ist Rousseau's Urteil über die Sciences et les arts, die akademische, im 18. Jahrhundert vvagen ihres weltumfassenden Charakters so gepriesene und ge-förderte Bildung, deren Kritik die preisgekrönte erste Rede für die Akademie von Dijon gilt. Wie die Pâdagogik, gehören die Re-ligion, die Formen gemeinsamer Feste, die Pflege des Patriotis-mus m den Zusammenhang der Stârkung der traditionellen

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Ge-meinschaft. Aile diese Fragen sind Gegenstand der Gesetzgebung; aber nicht der umfassenden Neuregelung durch den Gesetzgeber, sondern einer "VVeiterbildung als ethische Grundlagen des Staates. Ziel der Gesetzgebung bleibt somit die Erhaltung und Ausbildung des Gemeinschaftsbewu(3tseins. Jede Ânderung ist sorgfâltig darauf zu überprüfen, ob sie dieses Ziel gefahrdet: «II ne s'agit moins de devenir autres que vous n'etes, mais de savoir vous conserver tels», ruft Rousseau den Korsen zu, und «Braves Polonois, prenez garde; prenez garde que, pour vouloir trop bien etre, vous n'em-piriez votre situation. En songeant â ce que vous voulez acquerir, n'oubliez pas ce que vous pouvez perdre». (Considerations, eh. 1).

3. Aber was soll, mag man fragen, im Rahmen eines derart traditionsverhafteten, ohnehin durch das Staatsmodell prâdispo-nierten Gemeinvvesens eine Gesetzgebung, die doch im vvesentlichen das Bestehende neu begründen und nur fester verankern will? Die AntAvort auf diese Frage setzt die Einordnung der Staatslehre in Rousseau's Denken voraus — vor allem in seine Lehre vom Menschen, die in der berühmten, wenn auch zunâchst verspotteten, zweiten Rede «über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen» angelegt ist und die nicht nur in den pâdagogisehen und den autobiographisehen Schriften, sondern auch in den po-litischen vorausgesetzt wird. Sie führt, insofern im direkten Ge-gensatz zur Hobbes' schen Anthropologie, den Menschen auf einen ursprünglich guten Kern und Zustand zurück. Das ist in der Aufklârung nichts Ungewöhnliches. Aber diesen Urzustand kenn-zeichnet zugleich die Vereinzelung, die isolierte, tierâhnliche Exis-tenz ohne sittliche Ma3stâbe und erst reeht ohne jede staatliche Ordnung. Der Mensch kennt nur einen Selbsterhaltungswillen, den

amour-de soi; aber weder die Tugend, noch einen

Geltungswil-len, den amour-propre, die Eigenliebe im Verhâltnis zum Mit-mensehen. im Lauf der Enrvvicklung, die die Menschen zusam-menführt, bilden sich auch diese Eigenschaften heraus: Durch den Kontakt geraten die Menschen in Konkurrenz zueinander. Zunâchsl versuchen einzelne, dann aile, sich Güter, vor allem das zunâchst ailen ungeteilt zustehende Land vorzubehalten.

Amour-propre und Zufâlle begünstigen, dag sich Ungleichheiten des

Be-sitzes, Eigensucht, Neid herausbilden, und da3 Herrschaftsver-haltnisse zwischen reich und arm entstehen. Die Folge sind Kon-flikte, die in die Nâhe des Hobbes' schen «bellum omnium contra omnes» riilıren. in dieser Lage wird — hier folgt Rousseau mede­ nim Hobbes — die Verrechtlichung der gesellschaftlichen

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Bezie-hungen als Flucht aus dem unertrâglichen Naturzustand unum*

gânglich — nur da(3 dieser bei Rousseau unertrâglich erst gevvorden ist, und daP die gesellschaftsvertragliche Festlegung, die die natur-vvidrige Ungleichheit zementiert, im Interesse und auf AnstoP der Reichen erfolgt. Die Nâhe dieser Lehre vom Ursprung des Privat-eigentums und des Staates zur mantistischen, von Friedrich

En-gels dargestellten ist offenkundig. Ebenso offenkundig aber ist,

daP der damit vorgegebene, die faktische Ungleichheit verrecht-lichende Gesellschaftsvertrag nicht dem Modeli entspricht, dâs

Rousseau im Contrat Social darstellt: Engeîs wollte daraus

schlie-Pen, der Contrat Social stelle die Ersetzung der ungerechten Klas-senherrschaft, wie sie im Discours sur l'inegalite geschildert sei, durch einen revolutionâr - demokratischen Staat dar, die letzte Phase der Staatlichkeit vor deren Absterben.

Eme solche — verbreitete — Deutung würde ins zunâchst nach-gezeichnete Bild des Revolutionsvorbereiters Rousseau passen. Sie lâpt sich jedoch nicht mit ali den aufgezeigten Eigenheiten des

Rousseau' schen Staatsmodells und der konservierenden Funktion

der Gesetzgebung in Einklang bringen, und ebensowenig mit dem Text deı. Contrat Social. «L'homme est ne libre, et partout il est dans les fers» (CS I 1) — dieser das erste Kapitel des Contrat So­

cial einleitende Ausruf kritisiert und beklagt zwar die «Ketten» der

Knech'schaft. Aber er enthâlt keinerlei Aufforderung dazu, sie zu sprengen. im Gegenteil: er mündet in die Frage ein, was diese Verânderung legitimieren könne. Rousseau lehnt aile Herleitungen aus Gewalt und natürlicher Überordnung ab und fordert die ver-tragliche Legitimation. Sie kann — sind die Voraussetzungen der Gesetzgebung gegeben — einen Staat erzeugen, der dem Bürger die Freiheit sichert, eine volonte generale ermöglicht und die Gleich-heit erhalt. im ProzeP der Entstehung der UngleichGleich-heit gibt es einen Moment, in dem der Abschlup des Gesellschaftsvertrags be-reits zum Staat fâhige Menschen vereint, ohne daP die Ungleich­ heit schon so weit fortgeschritten ist, daP der Staat nur zum Ins-trument der Reichen, zur Bevvahrung von deren Macht wird. Eine solche Staatsgründung unterbricht den im Discours sur l'inegalite geschUderten Weg in die Knechtschaft. Nunmehr ist die Gesetzge­ bung nötig, um die alte, durch die Entwicklung gefâhrdete Gleich-heit zu erhalten. Sie ist noch möglich, vveil die GleichGleich-heit noch nicht so weit zerstört, der amour-propre noch nicht so weit ent-wickelt. ist, daP er eine volonte generale der Bürger ausschliePt. Aufgabe des so begründeten Staates und von dessen Gesetzgebung ist die Kollektivierung des Eigennutzes zum moi-commun — zur

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Gemeirıschaft, die die Entwicklung der negativen Eigenschaften im Individuum, dessen Entfremdung von der Soziabilitât aus-schlieP' urxd in eine positive, den Staat fördernde Eigenschaft, den Patriotismuş umformt.

Freilich ist Rousseau alles andere als optimistisch im Hinblick auf die Realisierbarkeit dieses Staatsmodells. Die im Discours sur

l'inegal'te aufgezeigte Entwicklung bleibt die Regel und bedroht

auch die Republik: «il doit arriver töt ou tard que le prince oppri-me enfin le souverain et rompe le traite social. C'est-lâ le vice inhe-rent et inevitable qui, des la naissance du corps politique, tend şans reiâche a le detruire, de meme que la vieillesse et la mort detruisent le corps de l'homme» (CS III 10). Auch die beste Re-gierung ist zum Scheitern verurteilt; «le corps politique, aussi bien que le corps de l'homme, commence â mourir des sa naissance et porte en lui-meme les causes de sa destruction» (CS III 11). Die

voloni? generale mag «indestructible» (CS IV 1) sein; aber sie ist

nicht mehr ailen einsichtig, wenn die Voraussetzungen des Staats­ modells schwinden. Der amour-propre setzt sich dagegen durch; die Herrschaft der Mâchtigen tritt an die Stelle der Herrschaft des von de: volonte generale getragenen Gesetzes, die Fremdbestim-mung an die Stelle der SelbstbestimFremdbestim-mung des Einzelnen als Glied der Gemeinschaft.

D1 ese Einsicht bestimmt die Stellung der Staatslehre in Rous­

seau's Werk. Sie wurde in persönlich bitterer Weise bestâtigt, als

neben anderen Regierungen auch die der gepriesenen Heimatstadt Genf 1762 Rousseau's Schriften verbot, und ihr Autor nicht in re-publikanischem, sondern auf königlich preu$ischem Gebiet des Fürsteııtums Neuenburg Zuflucht fand. Das Staatsmodell des

Con-trat Social hatte sich als vvirklichkeitsfremd ervviesen; es kam

von da an in den spâteren Schriften nur noch sporadisch zur Spra-che. Aber schon vorher betrachtete Rousseau es als Sonderfall, als zeitweiligen, nur unter besonderen Voraussetzungen möglichen Damm gegen die «pente naturelle et inevitable des gouvernements les mieux constitues» (CS III 11). Kein Zvveifel: der Mensch des 18. Jahrhunderts bekam in der Regel keine Muttermilch zu trin-ken, die ihn, wie das vorhin erwahnte Kind Polens, mit Vaterlands-liebe nâhrte. Um ihn vor der Entvvciklung eines übermâfSigen

amour propre zu schützen, vvar ein anderer Weg nötig : der der

natürlühen Erziehung. Diesem Mittel zur Bewahrung und Entvvick-lung des Guten im Menschen galt Rousseau's Hauptinteresse; es ist Gegenstand des Romans «Emile ou de l'eduCation». Zieht man des

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sen Buch zu Rate, so wird, wie vor allem Martin Rang dargelegt hat, diese Option vollends deutlich. Die politische Erziehung wird hier v:ıworfen, weil die Herstellung der Einheit von amour-propre und Patriotismus, von Individualinteresse und Gemeinschaftsbe-zogenheit im Grojîstaat des 18. Jahrhunderts nicht mehr reali-sierbar ist: «II faut opter entre faire un homme oü un citoyen; car on ne peut faire a la fois l'un et l'autre». Das führt zum gezielten Verzicht auf jedes Staatsbewu$tsein: «Ces deux mots, patrie et ci­ toyen, doıvent etre effaces des langues modernes». (Emile, Buch I ) . Nur so lâ(3t sich der Konflikt vermeiden, den eine ungenügende politische Erziehung hervorrufen mü$te: Das Hin— und Herge-rissensein des Individuums zvvischen bürgerlicher Bindung an den Staat und menschlichen Bindungen, der Zwiespalt und innere Widerspruch, der den «zivilisierten Menschen» des 18. Jahrhun­ derts kennzeichnet und der ihn in gleicher Weise der Bürgerlich-keit wiü der MenschlichBürgerlich-keit entfremdet. Deshalb ist die Erziehung

Emile's — mit emer Ausnahme, die ich gleich noch zu envâhnen

habe — staatsfrei und grundsâtzlich anders als die des jungen Po­ len, Korsen öder der antiken Vorbilder.

Eben deshalb hat es auch vom Standpunkt des Individuums aus keinen Sinn, die Staaten, auf deren Gebiet sich die natürliche Erziehung abspielt, zum Gegenstand politischer Bestrebungen zu machen. Die Berührungspunkte zvvischen Staat und Individuum sollen sich auf ein MindestmaP reduzieren. Mag der Staat absolu-tistisch sein — Rousseau zollt ihm Respekt und hofft im übrigen, da(3 er weder ihn bei seiner Arbeit, noch den Proze/? der natürli-chen Erziehung des einzelnen störe. Jede Ânderung könnte dieses freilich prekâre Toleranzverhâltnis beeintrachtigen und ist daher abzulebnen.

4. Versuchen wir nach der vervvirrenden ersten Bestandesauf-nahme eine Bilanz der systematischen Interpretation, so ervveist sich Rousseau's staatstheoretisches Werk als in sich geschlossen, folgerichtig, und, wenn auch mehrere politische Gestaltungsmög-lichkeiten einschhe^end, so doch in der Abfolge und Verortung dieser Möglichkeiten von einer umfassenden Einheitlichkeit. Ent-scheidende Teile der Staatstheorie weichen in historische Frühzeiten zurück. Gerade dieses Zurückweichen entschleiert eine bedenkliche Aktualitât anderer Teile.

a) Zunâchst, erstens: Die Republik des Contrat Social ist tot. War die Existenz ihrer sozialen und wirtschaftlichen

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Vorausset-zungen schon Rousseau selbst problematisch und bewâhrte sie

sich angesichts der Reaktion Genfs auf den Contrat Social, der

Teilungen Polens kurz nach dem Erscheinen der Arbeit über diesen Staat nicht —die Primitivitât, Transparenz, ausschlie$liche Orien-tierung auf das Gemeinsame ist für den heutigen Staat kaum mehr vorstelJbar. Insofern steht Rousseau, wie Bertrand de Jouvenel eindrückiich herausgearbeitet hat, als konsequenter Vollender am Ausgang der Tradition der^ platonischen Staatsphilosophie, weist er dem antiken Staatsideal spâtere Parallelen und das denkbare Sozialmodell zu— und zugleich den Platz in der Geschichte, die damit dieses Kapitel abgeschlossen hat und seitdem neue, andere Probleme stellt. Insofern lâjît sich Rousseau der Vergangenheit zuordnen, wie es letztlich auch Iring Fetscher tut; kann man «den

Contrai Social höchstens als interessantes Modeli demokratischer

Verhâltnisse ganz anderer Art — niemals aber als zu kopierendes Vorbiîd ansehen» (Fetscher S. XV).

b) Aber akzeptiert man diese Geschichtlichkeit des Contrat

Social, so tritt, darüber hinaus, zvveitens, die Aktualitât des Dis-cours sur l'inegalite zutage. Die dört geschilderte Depravation

menschlicher Freiheit lâ(3t sich dann nicht mehr rückgângig ma-chen. Es bleibt beim Weg von der isolierten menschlichen Existenz über die Herausblidung des Privateigentums und die Entwick-lung politischer Herrschaft zur Sklaverei, einer totalen Herrschaft, die allenfalls zu neuen Revolutionen führen kann. Einzig die na-türliche, individuelle Erziehung lâ(3t die Hoffnung auf Bewahrung von Menschlichkeit bestehen. Aber sie spielt sich, gerade nach

Rousseau's Vorstellungen, im absolutistischen Staat ab. Der Mensch

kann nur versuchen, von dessen Gewalt unbehelligt Menschlichkeit im privalen Bereich zu entwickeln. Auf den Komplex des Staates und die Reichen, die ihn in der Hand haben, eimvirken zu wollen>

ist aussichtslos. Einem solchen Versuch steht nicht nur die poten-zierts Macht entgegen, sondern es fehlt dafür die Grundlage des Gemeinvvillens, verbindender Überzeugungen, in deren Dienst die politische Herrschaft gestellt werden könnte.

Damit und insoweit ervveist sich Rousseau in der Tat als Apo-loget totaler Herrschaft, wenn auch in anderem Sinn, als es die liberale Kritik wahrhaben wollte und will. Aber Autoren, denen gerade angesichts aktüeller gesellschaftlich-politischer Entvvicklun-gen aa der Bewahrung staatlicher Autoritât und Ordnung geEntvvicklun-genü- gegenü-ber ailen diese Werte möglichenveise gefâhrdenden Krâften liegt, werden nicht müde, auf den «Grundgedanken der politischen

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Philosophie von Jean-Jacques Rousseau» — so Julien Freund — hinzuvveisen. Für Rousseau sei die Ordnung das Primare; demge-genüber könne das Individuum weder nach dem Modeli des

Contrac Social, noch nach dem der sonstigen Schriften Rechte

prâtendieren. Sonach geht, in der Tat, «Rousseau in den Spuren von Hobbes» (Mayer-Tasch) und setzt dessen autoritares Staats-verstândnis fort, dem Individuum nur Gehorsam, allenfallş die von

Cari Schmitt vorgezeichnete Position des gejagten, ohnmâchtigen

Partisanen überlassend.

c) Ja der «hobbisme le plus parfait», den Rousseau in einem berühmten Brief an Mirabeau für den Staat wünscht, auf den das im Concrat Social entwickelte Modeli nicht pa^t, übertrifft das Vorbild und aktualisiert damit, drittens, die Theorie der Begrün-dung des autoritâren Staates in vveiterer Hinsicht: Einmal durch die Lehre vom Naturzustand, die, Hobbes' einfachere Vorstellung eines anthropologischen Pessimismus überbietend, auch unter der Voraussetzung des ursprünglich guten Kerns im Menschen die Notvvendigkeit absoluter Herrschaft begründet. Lie$ sich das Mon-strum des Leviathan noch durch John Lockes Idyll freier Menschen verscheuchen, die den Zustand der natürlichen Freiheit auch im Staat tortsetzen, der dem allgemeinen Nutzen dient, so zvvingt

Rousseau's Anthropologie auch den optimistischen Auflârer zur

Anerkennung der Probleme der Sozialisation. Sie bereitet damit die marxisüsche Verelendungstheorie vor und bringt erstmals die Schrecken des bürgerlichen Zeitalters, die Probleme der Heraus-bildung von Privateigentum und politischer Gevvalt ins allgemeine Bewupfsein. — Schliefilich durch die Legitimationslehre des

Contrat Social, die nicht, wie die des Hobbes, einen

au^enstehen-den Dritten, sondern die volonte generale und damit ideell die Gesamtheit der Bürger zum absoluten Herrscher macht. Gevvip, bei de'- Schilderung der absoluten Monarchie spricht Rousseau

nicht von einer volonte generale. Aber, mag jene Herrschaftsform dem Staatsmodell des Contrat Social noch so wenig entsprechen, der Gesellschaftsvertrag legitimiert auch sie, bietet sich als Zau-berformel an, auf die sich auch die absolute Herrschaft begründen lâ$t: Rousseau's Legitimationslehre begründet, wie mein früherer Lehrer Max Imboden hareusgearbeitet hat, auch die vorgestellte, nicht nur die vvirkliche Demokratie. Und wird die volonte generale nicht im 4. Buch des Contrat Social als «unzerstörbar» bezeichnet? VVohl spricht Rousseau davon, da(3 sie beim Zerfall der sozialen Voraussetzungen des Staates stumm, nicht mehr erkannt werde. Aber als Idee bleibt sie wirklich, und damit vvird die personale

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Zuordnung eines hypothetischen Volksvvillens nicht nur zur Gesamtheit, sondern auch zu Individuen möglich. Damit wird der Hegel'sche Staatsbegriff vorvveggenommen, mit ali seiner Po-tenz, auch den absoluten Staat nicht nur als unausweichlich hin-zunehnıen, sondern sogar ideell zu überhöhen. Obwohl eine werk-treue înterpretation Rousseau's nicht zu diesem Ergebnis führen kann- die Elemente eines solchen Zerrbildes finden sich sâmtlich

im Werk des Genfers.

III

1. Dennoch scheint es mir möglich und gerechtfertigt, bei dieser aus den Quellen belegbaren Rousseau-Interpretation nicht stehen zu bleiben. Sie erschlie$t die Aktualitât des Gegenmodells zum Staat, wie er im Contrat Social als wünschbar hingestellt vvird, und werweist diesen in die Geschichte. Aber auch die eingangs skizzierte "VVirkungsgeschichte ist Bestandteil des Befunds, der unş zu beschaftigen hat. Vermag sie nicht ebenfalls aus Rousseau herzuleitende Aussagen zu vermitteln, die dazu nötigen, die Frage-stellung umzukehren, die Geschichtlichkeit des Contrat Social zu relativieren? Und ist es nicht fragvvürdig, die Aktualitât des Ver-hâltnisses Rousseau's zum absolutistischen Staat seiner Zeit un-historisch und losgelöst von der "VVirkungsgeschichte zu betrachten, vvenn gleichzeitig der Contrat Social ausschliePlich historisch gese-hen wird? Berücksichtigt man diese Einwânde, so verschiebt sich der Befund, den die immanente înterpretation der Schriften

Rousseau's ergbit.

2. Tatsâchlich war Rousseau Kind seines Jahrhunderts. So stark sein Denken dem auflârerischen entgegengesetzt, so not-wendig der Bruch mit den Autoren der Enzyklopâdie war, in deren Umkreis er als Fremdkörper wirken mu^te — Rousseau gehört in den Zusammenhang der politischen Wissenschaft seiner Zeit, den

Robert Derathe in ailen Einzelheiten nachgewiesen hat. Vor allem

das erste Buch des Contrat Social lebt durchvvegs von der Ausein-andersetzung mit der zeitgenössischen Naturrechtslehre. Auper den gro@en Vorlâufern wie Hobbes, Locke, Grotius und

Montes-quieu haben auch Autoren geringerer Bedeutung wie Burlamaqui, Barbeyrac, Filmer und Pufendorf darauf eingewirkt. Der liberale

Zweig der Naturrechtslehre schâlt, entsprechend den Bedürfnissen der v 'rtschaftlichen und geistigen Enrwicklung der Zeit, als Kern der Lehre die Bewahrung und Sicherung der natürlichen Freiheit heraus. Rousseau's anthropologischer Ausgangspunkt wie auch sein

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Freiheitsbegriff ist, wie wir gesehen haben, komplexer. Aber auch für ihn ist Zvveck der Untervverfung unter die volonte generale die Bewahıung und Wiedergewinnung der Freiheit, und den Vorausset-zungen des für unabdingbar gehaltenen Sozialmodells kann die Frei­ heit auch wirklich bevvahrt werden. Wie leicht mochte und mag da-her seme Freiheitslehre als Zündfunke wirken, der die Spannung zvvischen dem konstruktiven ideal des auf der Volkssouverânitât beruhenden Staates und dessen schon nicht mehr realistischen so-zialen Voraussetzungen überspringt! Zumal die Vertragstheorie eben auch als formale Begründung des absoluten Staates in Bet-racht k o m m t : Es liegt nahe, sie mit der in der Folge John Lockes ganz herrschenden Doktrin zur Grundlage des allgemeinen Rufs nach Freiheit, zur Befreiungslehre zu machen. Dazu geben etliche Stellen im Contrat Social bei isolierter Betrachtung Anlaft.

Erst recht aber ist an den konkreten Staatsschriften, ailen Warnungen vor dem Eindringen des Weltbürgertums und des Lu-xus zum Trotz, die Gedankemvelt des 18. Juhrhunderts nicht spur-los vorübergegengen. Am deutlichsten zeigt das Rousseau's Ver-hâltnis zu Genf. Gab sich die Widmung des Discours sur l'inegaliti als Schilderung des Genfer Verfassungessystems und rückte

Rous-seau auch den Contrat Social zunâchst in diesen Zusammenhang,

so mu(3te er doch bald zugeben, da3 er sich geirrt, reformerische Vorstellungen in eine erstarrte Verfassungsordnung projiziert hat-te. Gerade der Genfer Kleine Rat verbot den Contrat Social als aufrührerische Schrift. Deshalb wandte sich der Autor, unter Be-rufung auf die legitimen Grundlagen des Genfer Verfassungsrechts, in der Folge gegen die Verfassungvvirklichkeit. Mochte der 7. der

Lettres ecrites de la Montagne somit die Abkehr von Genf als Mo­

deli des Contrat Social bedeuten — politisch war dieser für Genf-ein Zündstoff, der in den Verfassungskâmpfen des folgenden Jahr-hunderts vortwirkte und noch in der geltenden Genfer Verfassungs­ ordnung Spuren hinterlassen hat.

Âhnlich sind die Schriften über Korsika und Polen einzuord-nen. Sıe mildern die prinzipiellen Postulate des Contrat Social ab, etwa das Prinzip der Unübertragbarkeit der volonte gânirale durch Zulassung der Reprâsentation mit imperativem Mandat öder mit Bestâtigung der Parlamentsbeschlüsse durch Volksabstimmun--gen (CS III 15 Abs. 5, ConsideYations eh. 7), das Prinzip der ab­ soluten Gleichheit durch freilich flexible, aber der Wirklichkeit des 18. Jahrhunderts angemessene stândisehe Gliederungen. Wenn so­ mit Rousseau den Polen und Korsen, wie vorhin zitiert, zuruft, es

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gehe d ü um, das Wesen ihrer politischen Existenz zu wahren, so

doch im R a h m e n eines Reformwillens, der für die Intelligenz des

18. Jahrhunderts so typisch wie vom Standpunkt des Rousseau' schen Staatsmodells aus problematisch war.

3. Aber auch auf der anderen Seite, im Bezugsfeld des zum na-türlichen Menschen erzogenen Emile zum GroPstaat des 18. Jahr­ hunderts, mildert Rousseau den kategorischen Konservativismus ab, der den Untertanen im Verhâltnis zum GrosPstaat leiten, ihn jede identifikation damit ablehnen lassen müPte. Zwar wird — ganz anders als im Erziehungsmodell der Considerations sur le

gouvernement de Pologne — die politische Erziehung Emile's

zunâchbt ausgeklammert und bis zum SchluP aufgeschoben, wenn der natürliche Mensch, der «homme abstrait» durch die vorherge-gangenen pâdagogischen Phasen gefestigt ist. Aber nun mup ihn der Erzieher darauf vorbereiten, in einem der bestehenden, kein moi'

cotnmun erzeugenden Staaten zu leben. Mü(ke nun nicht,

folgerich-tig, die Dressur zu abstraktem Gehorsam gegenüber der absolu-ten Moııarchie, allenfalls die Schulung zum Partisanen einsetzen? Statt dessen erhâlt Emile im abschliePenden 5. Buch des Romans eine merkvvürdig blasse, theoretische Lektion in «institutions po-litiques», die den Inhalt des Contrat Social vveitgehend wiederholt. Offensichtlich dient hier die Lehre vom Gesellschaftsvertrag wie-der zur blopen Legitimation politischer Herrschaft, unter Ausklam-merung der sozialen Voraussetzungen. Aber die Distanz des Men­ schen zu dem Land, in dem er lebt, und das er nicht als eigentliches Vaterland betrachten kann, ist dennoch nicht absolut. Der Kon-flikt zwischen Individualitât und Gemeinschaftsbildung ist unauf-hebbar. Auch der natürliche Mensch hat unausweichlich staatsbür-gerliche Rechte und Pflichten.

4. Also lag auch für Rousseau die Aufgabe der Fortbildung der Staatstheorie in Griffnâhe : Einerseits galt es, das Staatsden-ken des homme abstrait im absolutistischen Kulturstaat des 18. JahrhuEcderts inhaltlich auszufüllen und damit diesen Staat im Sinn der volonte ginirale zu modifizieren, andererseits das Staats-modell des Contrat Social den graduellen Verânderungen anzu-passen, die auf Grund der Entvvicklung im 18. Jahrhundert zwangs-lâufig waren. Aber Rousseau hat nicht zugegriffen. Die staatstheo-retischen und politischen Strömungen, die das nachgeholt haben, rissen eher einzelne Postulate aus dem Zusammenhang, als da0 sie an der Stelle weiterdachten, an der Rousseau aufhörte. ihn dört fortzusetzen, könnte dennoch seine Aktualitât in einem anderen.

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ihm "' ohl doch gemâ$eren Sinn herausstellen, als der zunachst

ermit telle Befund, der Rousseau's Aktualitât im wesentlichen in der Kapitul^tion der Demokratie vor dem modernen Machtstaat sieht.

Um die Aufgabe einer solchen vveniger resignativen Aktuali-sierung zü lösen, ist es zunachst nötig, nochmals die im Sozialmo-dell vorgegebenen Grimde herauszustellen, die Rousseau die poli-tische Resignation nahelegten. Wie wir gesehen haben, waren es vor alicm zwei: Einerseits hielt er die Schaffung eines genügend krâftigt-n Gemeinschaftsbewu$tseins, des moi-commun, das dem einzelnen den Zwiespalt zvvischen Vaterlandsliebe und subjektivem

amour-propre erspart, nur im transparenten Kleinstaat, unter der

nur dört schaffbaren Voraussetzung stândiger unmittelbarer Be-tâtigung der volonte generale möglich. Eben deshalb lehnt es aie — ohnehin nicht vollstândig mögliche — Indentifikation des Bür-gers mit dem Flâchenştaat ab. Andererseits hielt er die Entwick-lung d e ebenfalls durch den amour-propre bedingten wirtschaft-lichen Ungleichheit der Menschen, den Luxus, die Geldherrschaft in ihrem Vordringen für unausweichlich, und schlojî die Möglich-keit aus, unter solchen Auspizien dem Einzelnen Patriotismus zu-zumuten. Mir seheint, d'aÇ in beiden resignativen Erkenntnissen eine Herausforderung an die Staatsrechtslehre liegt, und da(3 diese Herausforderung Rousseau's grö^te Aktualitât ausmaeht.

Dem ersten Problem, der Übertragung des Demokratiemodells auf den Flâchenştaat, hat sich die demokratisehe Staatsrechtslehre seit dem 18. Jahrhundert immer wieder zugewandt. Das vordergrün-dige Ergebnis des liberalen Parlamentarismus ist bekannt: «Dein-de quia dıfficile plebs convenire coepit, ... necessitas ipsa curam rei publıcae ad senatum deduxit» (Dig, 1, 2, 2, 9). Die Argumenta-tion des römisehen Juristen Pomponius mit der teehnisehen Un-möglichkeıt, Volksversarnnılungen im Flâchenştaat abzuhalten, gilt als hmreichende Legitimation parlamentarischen Reprâsenta-tion. Wie brüchig und ungenügend diese Argumentation ist, ja da[5 sie folgerichtig ebenso gut zur Legitimation des Absolutismus füh-ren könnte, mag uns Rousseau mit seiner Polemik, ja Ironie ge-gen die Übertragung der volonte ge-generale, speziell die Reprâsenta-tion lehren. Er stellt dem modernen Staat die Frage, ob es ihm ge-lingt, trotz Gropflâchigkeit, trotz Arbeitsteilung von Reprâsentier-ten und ReprâsentanReprâsentier-ten, trotz Kompliziertheit der Sachfragen eine die Gesamtheit der Bürger integrierende volonte generale zu erhal-ten, die die Interessengegensâtze im Volk übenvinden kann. Die

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Schaffung eines solchen Staatsbewu$tseins wird in dieser Sicht zur unverzichtbaren Aufgabe.

in der Tat scheint der moderne Staat durch Verbesserung der Verkehrsverbindungen, Massenkommunikationsmittel, Erkennt-nisse der Sozialpsychologie ganz anders in der Lage, auchauf gro-(3en Terntorien, unter Massen von Menschen ein gemeinsames Erripfinden und Bewu(3tsein zu verbreiten. Der «Strukturvvandel der Demokratie» (G. Leibholz), der durch Übenvindung des elitâ-ren Reprâsentationsbegriff s den modernen Parteienstaat zur un-mittelbaren Demokratie umdeutet, ist dafür ein gutes Beispiel. Aber was ist der Preis dieses Wandels, soweit er nicht überhaupt nur Illusionen schafft? Bestâtigt sich, entnehmen wir Rousseau das Postulat der Massensuggestion und Massenmobilisation, nicht

Talmons eingangs envâhnte Deutung? Ervveist sich der — freilich

nun bewu{3t aktualisierte und unhistorisch gesehene — Çontrat

Social nicht als «totalitâre Demokratie», speziell als faschistische

Herrschaft einer akklamierenden, manipulierbaren und radikalisıer-baren Masse? ist gegenüber dieser Gefahr nicht Rousseau's Selbstbeschrânkung auf ein kleinrâumiges Staatsmodel der weise, einzig mögliche Schutz vor der Ausartung der volonte generale in to-talitâren Massenterror, und bringen die Ansâtze zu einer Übertra-gung dieses Staatsmodells auf den Flâchenstaat nicht allzu grope Gefahren mit sich?

D'(\se Frage lâ^t sich nicht rundweg verneinen. Aber sie stellt sich in voîler Schârfe nur, wenn das pâdagogisch-sozial-psychologische Problem der Identifikation des einzelnen mit dem Kollektiv isoliert gesehen wird, das Rousseau in der politischen Existenz des Flâchenstaats als unlösbar betrachtete, und das heu-te eher lösbar ist. Rousseau aber hielt für ebenso wichtig, die wirtschaftliche Entwicklung abzuwenden, die im Discours sur

l'inegaiiie vorgezeichnet ist: im Staat, ailen Verlockungen der

ökonomischen Expansion und Mobilisation zum Trotz, die soziale Gleichheit zu erhalten, Gleichheit, und zwar soziale Gleichheit, ist für ihn nie subjektive Illusion, sondern objektive, unverzichtbare Anforderung an den Staat, der die Freiheit verwirklichen soll. Die Mittel, die er zu diesem Zvveck vorschlug, waren wie wir gesehen haben, schon zu seiner Zeit konservativ. Sie sind heute hoffnungs-los überholt.

Der moderne Staat kann, wenn er will, mit Hilfe von Haus-halts und Wirtschaftspolitik, Steuersystem und Sozialpolitik

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um-verteilungen bevvirken; er kann die Einkommens— und

Vermö-gensverhâltnsise beeinflussen. Aber soll er es, und warum? Gegen-über ailen skeptischen Tendenzen und ailen Reduktionen dieser Frage aut sozialfürsorgerische öder moralische Probleme scheinen mir die Anthropologie des Discours sur l'inigalite und das Sozial-modell des Contrat Social schon in damaliger, aber erst recht in hcitiger Sicht aufzuzeigen, dap die Frage der sozialen Gleich-heit für die moderne Demokratie vielleicht das Zentralproblem überhaupt und der einzige Weg ist, den legitimen Contrat Social anders als im IjHge/5'schen Sinn als Ergebnis der sozialen Revolu-tion nach der Herausbildung extremster Klassengegensâtze deu* ten zu müssen.

Nur wenn und solange der modernen Demokratie der für

Rousseau noch sehr ungewisse Erfolg zuteil wird, die soziale Gleich-heit herzustellen, die der legitime Contrat Social voraussetzt,

kann ihr der Weg des Discours sur l'inegalite erspart bleiben. Und nur dann steht das für den modernen Staat unentbehrliche Gemein-schaftsbewPtsein auf einer Grundlage, die es vor den Perver-sionen der Massensuggestion und Massenverdummung schützt. Nuı-dann kann es reales Substrat einer volonti generale, Grundlage demokratıscher Rechtsetzung sein, und wird es nicht zur Verschlei-erungsideologie, die eine inexistente politische Gemeinschaft vortâusclıt und die Massen in solchem Wahn zum Werkzeug und Alibi des Terros macht, den Deutschland vor einer Generation am schrecklichsten, aber Deutschland nicht allein kennengelernt hat.

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Der hier abgedruckte Text gibt einen Vortrag wieder, den ich — geringfü-gig gekürzt — am 7. Dezember 1973 vor der Juristischen Fakultât der Univer-sitât Ankara in deutscher Sprache gehalten habe. Für die Anfertigung der türkischen Übersetzung bin ich Frau Professor Dr. Nuşin Ayiter, Ankara, zu groBem Dank verpflichtet. Diesen Dank auch hier auszusprechen, ist mir ein herzliches Bedürfnis.

Wegen der Vortragsform muB auf Einzelnachweise mit Ausnahme der aus sich heraus verstandlichen Zitate einzelner Stellen aus werken Rousseaus verzichtet werden. im Hinblick auf die Sekundarliteratur sei auf folgende Schriften hingewiesen, die für mich bei der Beschâftigung mit Rousseau von entscheidender Bedeutung gewesen sind :

Derathö, Robert: Rousseau et la philosophie politique de son temps. Pa­ ris 1950.

Engels, Friedrich: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats (1884). i n : Marx/Engels, Werke Bd. 21, Berlin 1962, S. 25-173.

Fetscher, Iring : Rousseaus politische Philosophie. 2, Aufl. Neuwied 1968. Imboden, Max: Rousseau und die Demokratie (1963). i n : Imboden, Staat

und Recht, Basel 1971, S. 75-91.

de Jouvenel, Bertrand: Essay sur la politique de Rousseau. i n : Jean-Jacques Rousseau. Du Contrat social, Geneve 1947.

Mayer-Tasch, Peter C.: Au'tonomie und Autoritât. Rousseau in den Spuren von Hobbes? Neuvvied 1968.

McDonald, Joan: Rousseau and the French Revolution. London 1965. Müller, Friedrich: Entfremdung. Zur anthropologischen Begründung der

Staatstheorie bei Rousseau, Hegel, Marx. Berlin, 1970.

Rang, Marting: Rousseaus Lehre vom Menschen. Göttingen 1959. Schefold, Dian: Rousseaus doppelte Staatslehre. i n : Der Staat als

Auf-gabe. Gedenkschrift für Max Imboden. Basel 1972, S. 333-353. Talmon, Jacob L.: The Rise of Totalitarian Democracy, Boston 1952 ( =

Referanslar

Benzer Belgeler

Türkiye'de ilk defa bir Eczacı- lık Fakültesi kurulması için bir yandan yasal işlemler yürütülür- ken, bir yandan da yabancı ülkelerdeki eczacılık fakülte ve okul-

1950'yi izleyen yılarda ilaç endüstrimizde aktif madde döne- minin başlatılması, ülkemize yeni girmeye başlayan yabancı ser-.. Gelişmeye yeni başlayan İtalya ve İspanya

Fumaria türlerinde olduğu gibi Corydalislerde de değişik grup- lara ait bir çok alkaloidin bulunduğu göz önüne alınarak; alkaloit- ler % 95 lik etanol ile tüketme, % 5

Araştırma iki amaç etrafında toplanmıştır: (a) Öğreten akranlar gelişimsel geriliği olan Öğrenen akranlarına tanıtıcı levhaları öğretmek üzere, sabit bekleme

deni ile izin reddolunmuştur.. şahısların hangi şartlarla oturabileceğini de gösterebilir demekte­ dir. 37 Bu nedenle gerekçe, örneğin bir yabancının belli işlerde

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Yukarıda incelediğimiz olayın bir benzeri sebebiyle de Peygamber (a.s.) yine iHihi hitaba ve arkasından gelen ikaza muhatap olmuştur. Bununla ilgili olarak anlatılan olay

Sofistlerin ilme ve felsefeye yaptıkları hizmet çok büyüktür. ilinin ve felsefenin ilkelerinin sağlam temellere oturtulmasına sebep olmuşlar- dU'. Denebilir ki, onlar