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3. DIE FUNKTIONEN DER KRANKHEIT

3.2. Die Funktion der Krankheit auf erzähltechnischnarrativer Ebene

“März” ist der Protagonist des Romans, aber nicht der Erzähler. Kipphardt gebraucht einen “Er- Erzähler”. Der Erzähler lässt die Figuren des Romans durch Dialoge auftreten. Aber in diesem Roman gibt es keine Dialoge, sondern der Erzähler lässt die anderen Figuren in ihren Niederschriften zu Wort kommen. Die Erzählform des Romans ist szenisches Erzählen. Die Figurenrede ist die Niederschrift des Alexanders.

Das Erzählverhalten Heinar Kipphardts Roman ist: ein personales Erzählverhalten. Bei dem personalen Erzählverhalten: “Der Erzähler wählt die Sehweise

einer oder mehreren Figuren; der Leser nimmt das Geschehen aus der Perspektive einer Figur auf.”16

Da das Erzählverhalten des Romans personales Erzählverhalten ist, ist die Erzählsituation auch die personale Erzählsituation. Bei dieser Erzählsituation

“[betrachtet] [d]er Leser die dargestellte Welt durch die Augen einer Romanfigur (Reflektorfigur).”17 Das Leben wird mit der Hauptfigur “März” nachgestellt. Wie bei der Definition erfährt unser Leser über das Leben des Protagonisten, mit seinen eigenen Worten.

Kipphardt verwendet im «März» eine Art Mosaik-oder Facettenstruktur, wie wir sie durchaus auch von anderen modernen Prosawerken kennen, er gebraucht sie allerdings mit kaum zu überbietender Konsequenz. Es gibt zwar Großüberschriften, die dem Leser eine Groborientierung an die Hand geben, was aber unter den Großtiteln versammelt und angeordnet ist, reicht vom kleinsten Bausteinchen eines telegrammartig abgekürzten Gedankensplitters über Auszüge aus Krankengeschichten unterschiedlichen Umfangs bis hin zu langen, zusammenhängenden Aufzeichnungen medizinischen, soziologischen, psychologischen und philosophischen Charakters. Einen ziemlich großen Raum nehmen Dialoge sowie die Rekonstruktion von Gesprächen zwischen Psychiatern und Kranken ein. Eine zentrale Stellung haben schließlich die Gedichte von Alexander März, die dieser Mosaikstruktur einmontiert sind.

Und anhand dieser Gedichte des Alexander März- aber auch an dessen Produktionen spekulativer Art – läßt sich das Problem der Authentizität der im Roman verwendeten Texte und somit die Frage nach dem dokumentarischen Charakter des

«März» klären. Vergleicht man nämlich die Textstellen, wie sie Kipphardt im Roman verwendet, mit den Originalzeugnissen, wie sie von Leo Navratil publiziert worden sind, so zeigt sich, daß Kipphardt mit den Märzschen Texten wie mit Rohmaterial umgeht, das er in unterschiedlicher Weise benutzt....

Dokumentarisches wird hier also, wie man sieht, recht frei verwendet. Kipphardt geht mit den ihm zugänglichen Dokumenten in der Tat großzügig um. Ein Nachprüfen und Vergleich vieler Textstellen aber ergibt, daß das benutzte «Material» nicht tendenziös verfälscht wird. Offensichtlich ist Kipphardt der Meinung , sich diesen großzügigen

16Deinlein, B. (2012) http://www.digitaleschulebayern.de/dsdaten/1/684.pdf

17Deinlein, B. (2012) http://www.digitaleschulebayern.de/dsdaten/1/684.pdf

69 Umgang mit Dokumentarischem leisten zu können, da er sich einzig und allein einer höheren Wahrheit verpflichtet weiß, die sich um bloße faktische Richtigkeit nicht so sehr kümmert. Und er weiß sich bei diesem freien Umgang mit Quellen in bester Gesellschaft.

So und ähnlich sind Schriftsteller aller Zeiten verfahren. Letztlich vermag Kipphardt also die höhere Wahrheit von Dichtung für sein Werk in Anspruch zu nehmen, wobei man sie in diesem Fall im Sinne einer engagierten Anteilnahme für die Heerscharen von kränkelnden Stiefkindern des Lebens verstehen kann.

Sicher ist die auf diese Weise entstandene Gestalt des Alexander März eine Kunstfigur, die von der Vorlage des dichtenden Schizophrenen abweicht, aber gerade als solche Kunstfigur vermag sie repräsentiv für alle jene Kranken zu sprechen, die hinter den Mauern der psychiatrischen Kliniken den Zerfall ihrer Persönlichkeit erleben müssen.

Es ist also schlicht hier auch der Sachverhalt angesprochen , daß Dichtung nie ein Abziehbild der Wirklichkeit liefert und sich nicht an der Richtigkeit der Oberfläche orientiert.

Wie immer man zu dieser Frage nach dem dokumentarischen Charakter des

«März» stehen mag, was die Struktur des Romans angeht, kann man sagen: Was zunächst recht chaotisch erscheint und wie eine völlige Atomisierung der Struktur des Romans anmutet, hat durchaus seine innere Logik. Sie besteht nicht etwa nur darin, daß der inhaltlichen Darstellung von Zerrüttung und psychischem Verfall eine chaotische Struktur durchaus entspricht, vielmehr ist diese nuancenreiche Mosaikstruktur vor allem deshalb sinnvoll, weil sie viele perspektivische Berechnungen erlaubt und auf diese Weise ein ungemein differenziertes Bild der Hauptgestalt entsteht. (Höfer.1980:118,119)

Adolf Höfer informiert uns weiter über die Gestalt des Romans;

Die Hauptgestalt des Romans, Alexander März, erscheint in einer faszinierenden Doppelgesichtigkeit, und mit diesem Wort vom Doppelgesicht, welches auch die Krankheitsbezeichnung Schizophrenie ablösen sollte, wird wohl schließlich auch die ganze Tiefe des Romans ausgelotet.

Dies Doppelgesicht trägt also einmal die Züge eines Opferlamms und Schmerzensmannes der Gegenwart, der die Krankheit der Welt aufgebürdet bekommt und der- ein moderner Ecce homo, dem kein Gefühl messianischer Auserwähltheit die Last versüßt- dies Kreuz ein Leben lang zu tragen hat. Damit wird eine neue Auffassung von Krankheit, eine neue Krankheitseinsicht vermittelt, welche die sozialen Ursachen von

Krankheiten erkennen läßt und deren wichtigster Aspekt an früherer Stelle mit dem Wort stellvertretenden Leiden belegt worden ist.

Und dies Doppelgesicht trägt zugleich die Züge des modernen Dichters, der durch seine Sprache die Krankheit beschreibbar macht, der dadurch die umfassende Diagnose liefert, welche Therapie, Heilung und Gesundung erst in den Bereich des Möglichen rückt.

Der Roman «März» von Heinar Kipphardt vermag dazu beizutragen, einem neuen Verständnis von Krankheit und Gesundheit den Weg zu öffnen. Er setzt damit Zeichen der Hoffnung für eine humanere Zukunft.(2009:127,128)

Ulrich Greiners Artikel berichtet über die Erzähltechnik des Romans;

Kipphardt erzählt seinen Roman nicht als gradlinige Geschichte, sondern er setzt ein Mosaik zusammen: aus wirklichen und fiktiven Dokumenten, aus Befragungen und Berichten, aus kommentierenden und poetischen Passagen. ...Kipphardt begreift Geisteskrankheit als gesellschaftliches Phänomen und demonstriert das am Fall des Alexander März. (Frankfurter Allgemeine, 10.07.1976)